Agamemnons unterirdischer Palast

Zachary Mason: »Die verlorenen Bücher der Odyssee«

  • Fokke Joel
  • Lesedauer: 3 Min.

Für den in Kalifornien lebenden Zachary Mason ist Homers »Odyssee« eine Sammlung von Bildern: »schwarze Schiffe, hoch auf einen weißen Strand gezogen, ein Wache haltender Menschenfresser vor seiner Höhle, ein Mann im weglosen Meer auf der Suche nach der Heimat.« Bilder, die ihm Ausgangspunkt für 44 Geschichten sind. Geschichten, in denen er »auf abgedroschene epische Formeln verzichten« will, um »stattdessen eine einzelne Trope oder ein Bild zu äußerster Klarheit« [zu] destillieren«.

So will sich Agamemnon, König und Anführer der Belagerer Trojas, einen Palast vor die feindliche Stadt setzen lassen. Doch »außer ein paar Bäumen und Unmengen Sand war nichts da, womit man hätte bauen können«. Auf Odysseus' Idee hin wird deshalb »das Umkehrbild eines Palastes« in die Erde gegraben. Ein aberwitziges, immer vom Einsturz bedrohtes Labyrinth von Gängen und Räumen entsteht. Doch Agamemnon ist zufrieden: »Falls es ihm nicht gelinge, Troja einzunehmen, habe er sich zumindest bereits sein Grab geschaufelt.«

Mason bürstet mit Witz und Ironie den ursprünglichen Text gegen den Strich. Odysseus schlägt sich bei ihm mit der Brutalität des Krieges und dessen in Homers Epos verschwiegenen Folgen herum. Dass er dem Kyklopen Polyphem entgeht, indem er sich »Niemand« nennt, wird ihm bei Mason zum Verhängnis. Als Penelope, vom langen Warten und der Angst um ihren Mann zerfressen, das Orakel von Delphi befragt, ob er zurückkehren wird, bekommt sie die Antwort: »Niemand wird zu dir zurückkehren, doch du wirst noch lange allein sein.« Aus Verzweiflung bringt sie sich daraufhin um.

Weil Mason die Odyssee Homers im Kern als eine Reihe von Bildern auffasst, kann er sie als Materialsammlung für sein Buch verwenden. Erst diese Herauslösung aus dem Textzusammenhang ermöglicht die neuen Geschichten. Bereits die hellenistischen Dichter sind so vorgegangen. Auch sie bedienten sich bei Homer, der für sie schon ein Klassiker war. Aber die »Odyssee« besteht eben nicht nur aus »abgedroschenen epischen Formeln«, wie Zachary Mason schreibt. Deshalb verlieren manche seiner Geschichten vor dem Hintergrund des homerischen Epos an Bedeutung. Bei Homer ist z.B. Polyphem nicht nur das einäugige Ungeheuer, wie in der zum Klischee geronnenen allgemeinen Vorstellung, sondern ein sich gleichzeitig fürsorglich um seine Schafe kümmernder Hirt. Und Odysseus ist gerade in dieser Geschichte nicht der ungebrochene Held, sondern gibt sogar Fehler zu (dass er das Gastrecht gegenüber Polyphem verletzt hat). Masons Polyphem-Geschichte, in dem er den Kyklopen als sympathisches Opfer inszeniert, ist fade, weil sie der Figur kaum etwas hinzufügt.

Zachary Mason ist dort am besten, wo er das Epos aus der heutigen Perspektive zu Recht konterkariert. Das gelingt ihm vor allem in den ersten Geschichten. Hier erzählt er mit originellen Ideen und einer lebendigen Sprache eine andere »Odyssee«, eine, die dem Heldischen des Epos etwas entgegensetzt. Odysseus: aus heutiger Sicht ein Massenmörder, der, ohne mit der Wimper zu zucken, die Mägde und die Freier seiner Frau ermordet.

Zachary Mason: Die verlorenen Bücher der Odyssee. Übersetzung Martina Tichy. Suhrkamp. 230 S., geb., 22,95 €.

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