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Die Seele des Fisches
Ingvar Ambjørnsen: In seinem Roman »Den Oridongo hinauf« soll vieles in der Schwebe bleiben
Auf dem Buchumschlag ein rostrot gestrichenes norwegisches Bootshaus, das sich in blauem Wasser spiegelt. Aber die Gestalterin Maja Bechert hat das Foto umgedreht: Das Spiegelbild steht über dem Haus, und das Meer wird zum Himmel. Als ob wir von vornherein darauf eingestimmt werden sollen, dass manches im Roman rätselhaft bleiben muss. Wie viel bleibt denn auch in Wirklichkeit Geheimnis - Autoren zum Trotz, die uns suggerieren, man könnte alles durchleuchten, alles erklären.
In Ingvar Ambjørnsens neuem Roman wissen wir noch nicht einmal, wie der Ich-Erzähler wirklich heißt. Den Namen Ulf Vågsvik, das gibt er zu, hat er sich erst zugelegt, als er nach Vaksøy kam, auf jene Insel in Nordwestnorwegen, wo die Handlung spielt. Wovor ist er geflohen? Mit was für einem Leben hat er gebrochen? Irgendwie wartet man darauf, dass er es enthüllt. Andeutungen müssen genügen. Von einer langen Fahrt »den Oridongo hinauf« erzählt er dem Jungen Tom. Aber den Fluss wird man vergebens auf der Landkarte suchen. Eine Metapher für den langen Weg zu sich selbst?
Mit leiser, nachdenklicher Stimme spricht Ulf zu uns, wir werden den Klang noch lange im Ohr haben. Er sagt, was er im Moment tut und was er dabei spürt. Sein ganzes Dasein ist auf dieses ruhige Sich-Selbst-Spüren ausgerichtet, wie es Psychologen einem Verirrten, Gestrauchelten raten würden. Da tut ihm das raue Dasein auf der Insel gut. Die Leute reden nicht viel, wahren Abstand zueinander und zeigen sich doch, wenn es not tut, als verschworene Gemeinschaft. Bedingungslos aufgehoben ist einer wie Ulf in solcher Solidarität. Und es nimmt nicht Wunder, dass es auch die holländische Familie van der Klerk nach Vaksøy zieht. Mann, Frau, zwei Kinder - die »Ureinwohner« wollen ihnen einen besonders freundlichen Empfang bereiten. Gemeinsam mit anderen baut Ulf das alte Schulgebäude zu einem Wohnhaus für die Klerks aus. Doch mitten in der Willkommensfeier bricht der Vater tot zusammen - und Tom, sein Sohn, reißt aus.
Viel länger bleibt er verschwunden, als ein Kind allein in der Kälte überleben könnte. Wo war er? Tränen laufen ihm übers Gesicht, als Ulf ihn findet, doch er weigert sich zu sprechen. - Und Ulf wird klar, dass er auch so ein Junge war, dass dieses Sich-Abkapseln heute noch in ihm ist. Manchmal überkommt ihn ein seltsam aufflammender Zorn, der ihn ruhelos macht, obwohl er sich nach nichts mehr als nach Ruhe sehnt. Dann wieder ist ihm, als ob er durch kaltes, klares Wasser mit den Augen des »Dolmen« schaut, »des großen Fisches, der irgendwo in der Tiefe steht, ich stehe dort unten im eiskalten Wasser, mit vibrierenden Flossen und aufgerissenen Augen, und dann fallen alle Gefühle von mir ab, ich ahne die Seele des Fisches ..., die pures Dasein in der Welt ist ... und das Weinen legt sich ...« Manchmal kann er nicht anders: Er muss sich in einem Zelt verkriechen oder in einer verlassenen Hütte, muss weg von Berit, die Angst um ihn hat.
Berit: Dies ist der Roman einer großen, einer hilflosen Liebe. Berit, älter als Ulf, sie hatte schon einen Schlaganfall. Ihr Mann Magne ist ihr gestorben. Ulf trägt seine Sachen und redet mit ihm in Gedanken. Der tote Magne will, dass er Berit liebt. Auf eindrückliche Weise schreibt Ambjørnsen über Nähe und Vertrauen - und darüber, wie ein Mensch trotz alledem einsam sein kann.
Auslöser für sein Schreiben, sagt Ambjørnsen, sei ein Gemälde von Jack Vettriano gewesen. Wahrscheinlich handelt es sich um »Treibender« von 1994. Ein Mann mit dem Rücken zum Betrachter, hemdsärmlig, mit Hut - in der einen Hand eine Zigarette, in der anderen einen einfachen Koffer, blickt aufs Meer. Als Sinnbild menschlicher Existenz mag es dem Autor erschienen sein. Mit seinem Roman hat er wohl ebenfalls ein solches Sinnbild erschaffen.
Ingvar Ambjørnsen: Den Oridongo hinauf. Roman. Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs. Edition Nautilus. 252 S., geb., 19,90 €
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