Der Wanderer
Michail Schischkin folgt Byron und Tolstoi durch kalte Höhenluft
Wer wandert, lässt etwas zurück. Er geht mit leichtem Gepäck, die schweren Lasten lässt er zuhaus. Er ist immer zur Hälfte ein Pilger, ausschauend nach etwas, das er nur gehend findet und ein Flüchtling, der eiligen Schrittes voran stürzend nicht zurückblicken will.
So auch Tolstoi, der 1857 in die Schweiz flüchtet, um durch die Alpen zu gehen. Er hatte in Paris die öffentliche Hinrichtung eines Mörders erlebt und war so entsetzt, dass er sofort abreiste. Aber es ist nicht die Grausamkeit der Todesstrafe, die ihn so schockiert (er hat in seinem Leben schon viel Schreckliches gesehen), sondern im Gegenteil: die sachliche Kühle der maschinellen Tötungsmaschine, der technisch optimierte Sekundentod auf der Guillotine, diese »hochverfeinerte Ruhe und Bequemlichkeit beim Töten« macht ihn fassungslos. Nun will er durch die große und mächtige Natur gehen, gegen die die Technik ihren Aufstand probt. Er hat die zwanzig Bände Rousseau gelesen, auf seinen Spuren geht er hier. Bis Genf ist er mit dem Zug gereist, sein zivilisationskritisches Fazit lautet: »Für die Reise ist die Eisenbahn, was für die Liebe das Bordell ist: Sie ist genauso bequem, aber auch genauso unmenschlich maschinell und tödlich eintönig.«
Michail Schischkin, 1961 in Moskau geboren, folgt nun Tolstoi in die Alpen. Ist auch er ein Flüchtling und Pilger? Ja, aber vor allem ist er literarischer Spurensucher. Er geht die Wege, die jene gingen, von denen er las. Er geht zwar nicht mit Büchern beladen, aber mit jenen Bildern einer Landschaft, die er mit sich trägt, seit er von ihr las.
Und da ist nicht nur Tolstoi, sondern auch Lord Byron. Der geht in die Alpen auf der Flucht vor einer Hetzjagd der Gesellschaft, dessen literarischer Star er einmal war. Nun aber ist seine Liebe zur Halbschwester Augusta ein Skandal, man lässt ihn fallen. Er glaubt, in der Heirat mit einem Mädchen, das er nicht liebt, einen Ausweg gefunden zu haben. Aber der Ekel vor dieser Lüge wächst: »Seine wahre Liebe hatte die Gesellschaft ihm nicht verziehen, die falsche Heirat hingegen begrüßte sie.« So kommt auch er in die Alpen, auf der Flucht vor dem falschen Leben, auf der Suche nach etwas, das ihn daraus retten könnte.
Michail Schischkin ist ein ungewöhnlicher Autor. Er geht und blickt dabei auf Wege, in Schluchten, auf Gipfel und zu Gletschern - und etwas in ihm liest all seine Bücher noch einmal. Da beginnen sie zu leben! Der Wanderer gerät ins Gespräch mit ihnen als wären sie da. »Verstehen heißt Schreiben«, sagt er am Anfang seines umfänglichen Wanderbuches, das darum nie aufhört, eine Reise durch die west-osteuropäische Geistesgeschichte zu sein. Welche Erwartungen hat einer, wenn er liest, wenn er geht und schaut? Es ist großartig, dem nachzuspüren, wenn auch mitunter fast eine Überforderung. Denn der literarische Boden, den Schischkin bestellt, ist fruchtbar, und immer wachsen ihm unterwegs neue Zitate zu. Da lebt einer das Gelesene in unerhörter Intensität. Als moderner Mensch hat er auch seinen Laptop im Rucksack dabei, sitzt am Wegrand und schreibt, solange es die Akkus erlauben. Und da fließt das Gesehene in einem Bild zusammen mit dem, was er bereits darüber gelesen hat.
Sieben Tage braucht er für seine Wanderung von Montreux bis Meiringen. Wer allein geht, der hat den Kopf frei für Betrachtungen aller Art. Und auch über das Russland von heute denkt er nach, über den Zerfall der Sowjetunion und was dann kam. Ende der achtziger Jahre war er Lehrer geworden. Was für die Ewigkeit gemacht schien, begann vor seinen Augen zusammenzubrechen: »In den oberen Klassen wurden die Komsomolversammlungen abgeschafft. In den mittleren mußte man nicht mehr das verhasste rote Pioniertuch tragen - die Kinder machten aus ihnen auf dem Müllhaufen im Schulhof ein Feuer.« Die Müllhaufen der Geschichte. Auch deren Bilder hat der Wanderer in sich. Denn wer über die Alpen geht, wie einst Büchners Lenz, der trägt doch sein Leben immer mit sich. Lässt es sich angesichts dieser gewaltigen Natur leichter tragen? Es scheint so, wenn er notiert: »Schreiben ist ein Verschlingen von all dem, was einen umgibt, der Vergangenheit, der nahen Menschen, der Stadt, des Windes, des Todes.«
Wer so intensiv liest wie Schischkin, der lebt auch intensiv - den verwandelt das Gelesene, rettet ihn vor Zynismus, Lieblosigkeit, Dünkel und Gleichgültigkeit. Tolstoi, Rousseau und Byron bedenkend, wird der Wanderer auf selbstbewusste Weise demütig. Er ist, so spürt er bei jedem Atemzug in der kalten Höhenluft, mit jedem Schritt voran ins Ungewisse, lesend nie allein. Das ist ein wahrhaft erhebendes Gefühl.
Michail Schischkin: Auf den Spuren von Byron und Tolstoi. Eine literarische Wanderung von Montreux nach Meiringen. Rotpunkt Verlag. 408 S., geb., 29,90 €.
Wir behalten den Überblick!
Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.