Die Provinz als grandioser Kosmos
Norbert Scheuer: »Peehs Liebe« als Labyrinth aus Erinnerungen
Norbert Scheuers Texte, die Romane ebenso wie die im letzten Jahr erschienenen Gedichte, bilden einen einzigen kleinen Rayon ab, das Provinzstädtchen Kall in der Eifel - an der Eisenbahnlinie zwischen Köln und Trier. Die Provinz ein grandioser Kosmos: Konstruktion einer Landschaft aus der dichterischen Fantasie. So kennt man Figuren bereits aus früheren Romanen. Vertraut auch die Topographie rund ums stillgelegte Bergwerk und die Kneipen, nicht zu vergessen den Rewe-Markt, dessen Verkäuferinnen Scheuer am Ende des Romans ausdrücklich dankt. Weiß er doch deren »Kuchen und herzhafte Marmagener Mischbrote« zu schätzen. Alles hat seinen genauen Platz und ist doch zugleich Produkt der Einbildungskraft.
Im neuen Roman erzählt Norbert Scheuer die Geschichte von Rosarius Delamot. 23 Jahre bleibt der 1938 geborene Rosarius kleinwüchsig und mehr oder weniger stumm, wenn er nicht vor sich hin summt. Er gilt irgendwie als behindert, ja schwachsinnig, weil er, wie es einmal heißt, nur eine Gehirnhälfte habe. Dafür reagiert er ungeheuer sensibel, nimmt Kleinigkeiten wahr und hat wie sein mutmaßlicher Vater, ein Archäologe, der auf der Durchreise die junge Kathy schwängerte, ein Faible für Straßennamen und Ortsbezeichnungen. Scheuer erzählt auf verschiedenen Ebenen, lässt unterschiedliche Erzählstimmen und -perspektiven zu Wort kommen.
Die letzten Jahre seines Lebens verbringt Rosarius in der Anstalt. In Ich-Form berichtet er einer jungen Pflegerin von Stationen seines Lebens. Da sind seine verschiedenen Aushilfsarbeiten, Fahrten als Beifahrer mit dem Lkw durch die Nordeifel oder im Pkw mit dem langjährigen Lebensgefährten der Mutter, dem skurrilen Handlungsreisenden Vincentini, der die weibliche Welt mit einem Akupunkturgerät beglücken möchte. Schließlich die kurze Fußballerkarriere als Torwart bis zum verletzungsbedingten Ende. Daneben stellt Scheuer diese junge Pflegerin Annie, die sich in einen Kollegen, genannt Bellarmin, verliebt. Und weil Rosarius immer wieder von seiner Kindheits- und Jugendgeliebten Petra, genannt Peeh, erzählt, schlüpft Annie am Ende in deren Rolle. Zufrieden, ja glücklich kann Rosarius sterben: »Annie hielt seine Hand bis zuletzt. Sie wusste, dass er nun sterben würde. Er drückte schwach ihre Finger. ›Peeh, bist du da?‹, fragte er. ›Ja, ich bin hier‹, antwortete sie, dann summte er wieder, ein Summen, das immer leiser wurde, bis es nur noch Erinnerung war.« Aber der Roman erzählt weit mehr: in Andeutungen von den Abenteuern des Archäologen-Vaters auf der Suche nach einer antiken Straße in Syrien oder von Hölderlin und seinem Hyperion-Roman, der sich leitmotivisch durch den Text zieht: Vincentini trägt ein Bändchen durch den Krieg, lernt Passagen auswendig und vermittelt sie an den kleinen Rosarius, der wiederum den romantischen Text seiner Pflegerin näherbringt. Die nennt ihrerseits ihren jungen Geliebten nach einer Gestalt des Romans.
So entsteht ein dichtes, intensives Textgewebe, dessen ständiger »Wechsel der Töne« (Hölderlin) die Leser in verschiedene Stimmungslagen versetzt: vom romantischen Fernweh bis zum »hen kai pan«, dem Verschmelzungswunsch, von der Entgrenzung zurück zum Begehren nach Nähe, Intensität und Intimität. - »Unser Geist«, so Scheuer, »scheint ein Labyrinth aus Erinnerungen zu sein, ein Labyrinth, aus dem wir wohl niemals hinausfinden, und dieses Rätsel ist zugleich die Aufgabe der Literatur.«
Norbert Scheuer: Peehs Liebe. Roman. C. H. Beck. 223 S., geb., 17,95 €.
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