Mauerspecht Alwin hält die Fahne hoch

Auf Spurensuche des 13. August, wo einst der Wall war und wo er noch steht

  • Peter Kirschey
  • Lesedauer: 4 Min.
Hier steht keiner und schaut. Hier ist auch nichts Aufregendes zu sehen, an diesem 12. August auf der Schillingbrücke nahe Ostbahnhof. Hier der entstehende Prachtbau von ver.di auf der einen und dort, auf der anderen Seite der Spree, ein Hotel. Ansonsten Tristesse. Dabei war hier, wo Mitte, Kreuzberg und Friedrichshain aneinander stoßen, einer der spannendsten Orte der geteilten Berliner Nachkriegsgeschichte. Mit der Straßenbahn fuhr man bis auf die Brücke und war - noch auf der Schiene - im Osten. Stieg man aus, war man im Westen. Der Kaugummi lockte. Das war vor der Mauer. Dann wurde es Grenzgebiet. Und als auch das vorbei war, blieb eine Brache zurück. Am längsten noch erhaltenen Mauerstück an der Mühlenstraße zwischen Oberbaum- und Schillingbrücke quälen sich ein paar einsame Touristen durch die Mittagshitze. Fotos fürs Familienalbum im fernen Jokohama oder in Toronto. Eigentlich interessiert sich niemand dafür, was hier einmal geschah. Es steht auf der Liste der Reiseveranstalter, also wird es abgearbeitet. Paläste, Museen, vergoldete WC oder sprudelnde Brunnen haben alle Städte dieser Welt. Aber eine Mauer, ein kaltes, schnörkelloses Stück Beton? Wo gibt es das noch zu sehen! Heute, 11 Uhr: Kranzniederlegung an der Mauergedenkstätte in der Bernauer Straße, 12 Uhr: Kranzniederlegung in der Zimmerstraße,Gedenkstätte Hohenschönhausen:Spezialführungen durch das einstige MfS-Gefängnis, Performance auf der Kreuzung Potsdamer Platz, 899 Menschen werden sich symbolisch für die Mauertoten auf die Straße legen. Die Pflastersteine, die den einstigen Grenzverlauf quer über die Friedrichstraße am Checkpoint-Charlie-Rummel markieren, münden direkt in eine Ramschkiste: Schapkas, Armeemützen, Orden Banner der Arbeit. »Was interessieren mich Mauertote, ich muss Geld verdienen. Es geht immer nur ums Geld.« Die Händler hier schütten sofort ihr Herz aus. Das Geschäft läuft hundsmiserabel. Wer will sich schon eine Gasmaske aus NVA-Zeiten in seine Souvenirecke stellen. Nur Verrückte machen das, sagt ein Dortmunder, der mit 30 Landesgenossen Berlin belagert. Das Mauermuseum gehört zu den meistbesuchten der Stadt. Es ist eine privatwirtschaftlich geführte Institution. Die Arbeitsgemeinschaft 13. August, Hausherr der Einrichtung, nannte gestern die neuesten Erkenntnisse: Mindestens 1008 Opfer hat das DDR-Grenzregime gefordert - Erschossene, irrtümlich Erschossene, vom Gegner Erschossene, Ertrunkene, Hingerichtete, Gestorbene. Einige Namen wurde aus der Liste entfernt, neue sind hinzugekommen. Während drinnen Alexandra Hildebrandt, die Frau des Mauermuseumsgründers, mit jugendlichen Journalisten um jeden Toten feilscht, ob der auf Seite sowieso aufgeführte Dahingegangene mit der Nummer sowieso nicht doch eines natürlichen Todes durch Ertrinken in der Ostsee gestorben sei, oder ob er Opfer eines unmenschlichen, menschenverachtenden Terrorregimes wurde, macht draußen die Runde: Der greise Rainer Hildebrandt war bei der Präsentation der Liste nicht dabei. »Der wird eingesperrt, den lassen die nicht mehr raus«, sagen Leute, die die unappetitlichen Innereien des Museums genau kennen. »Wenn der stirbt, dann gibt es hier Krieg. Da stehen schon ein Dutzend mit dem Dolch bereit für das gegenseitige Abschlachten«. Auch Alwin, Mauerspecht der ersten Stunde, Schwabe, Schneider von Beruf, kennt sich bestens aus. Er verkauft gegenüber dem Café Adler die einzigen authentischen Mauerstücke. Auch er brach im Unfrieden mit dem Hildebrandt-Imperium, führte mit dem Bezirksamt Streit um seine Bretterbude und darf nun auf dem Horror-Jahrmarkt bemalte Betonstücke verkaufen. Bis eines Tages ein Immobilienhai den Budenzauber beenden wird. »Träume, in diesem Haus finden sie traumhafte Büroflächen«, ist auf der Häuserwand an der Zimmerstraße zu lesen, auf der einst das CDU-Blatt Ost »Neue Zeit« um Leser warb. Von Geschichte redet keiner. Nur von Spaß und Fun. Ein Foto hängt an der US-Baracke, die auch nur ein Imitat ist. Hauptsache, man hat Fun. Und das haben sie alle, die da über die Friedrichstraße quirlen. Auch heute, wenn der Regierende Bürgermeister Seite an Seite mit der PDS seiner Pflicht Genüge tun und Kränze niederlegen wird, ist es nicht anders. Denn die Show geht weiter. Für die Performance am Potsdamer Platz werden noch Akteure gesucht. Wer will, kann sich mit hinlegen, »wie gerade von Grenzsoldaten angeschossen«, heißt es in einem Aufruf. Oder einen Grenzsoldaten mimen. Wenn das kein Spaß ist.
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