Die Schatten des Käfigs

Wie der deutsche Fußballnationalspieler Jerome Boateng um den Ruf seines Bruders Kevin kämpft

  • Velten Schäfer
  • Lesedauer: 4 Min.
Junge Fußballer mit Einwanderungshintergrund bewegen sich zwischen »Schland«-Euphorie und Sarrazin-Ressentiment. Ein Ortstermin im Panke-Park im Berliner Wedding.

Der Käfig steht nicht weit weg von der Bibliothek am Luisenbad in dem schmalen Park an der Panke in Wedding: harter Asphalt, Tore aus Balken, am Rand ein Sperrmüllsofa. Auf dem Platz gibt es gerade ein lustloses Drei-gegen-Drei. Dabei hätten die 12- bis 15-Jährigen ein dankbares Publikum. Ein halbes Dutzend Journalisten beäugt die Szenerie, die die beiden derzeit erfolgreichsten Fußballer Berlins hervorgebracht hat: Jerome und Kevin-Prince Boateng, die Halbbrüder aus Wilmersdorf und Wedding, die bei Bayern München und dem AC Mailand spielen. Sogar das Netz, das den Käfig nach oben abschließt, ist noch da. Alles wie im Buch beschrieben.

Dieses Netz ist inzwischen berühmt. Die Käfig-Kinder haben dafür zusammengelegt, als dort noch George Boateng, Jahrgang 1982 das Sagen hatte, Kevins (1987) Bruder und Jeromes (1988) Halbbruder. Die Journalisten wissen das aus dem Buch »Die Brüder Boateng« des FAZ-Redakteurs Michael Horeni, aus dem an diesem Tag in der Bibliothek gelesen wird, mit Jerome Boateng und zunächst auch George, der dann aber vor den Kameras flüchtet.

George hat diesen Käfig entdeckt und Kevin mitgenommen. Auch dass der Halbbruder aus Wilmersdorf dazukommen durfte, hat er den Eltern abgetrotzt. Unter seinem Schutz mussten die beiden nur um Bälle kämpfen. Das taten sie mit großer Leidenschaft, die Horeni auch mit dem Klassenunterschied zwischen den Halbbrüdern erklärt. Kevin, der mit George auf sechs Quadratmetern wohnte, muss sich gegenüber dem behüteten Jerome beweisen. Dieser trainiert so lange heimlich, bis er dem Älteren wieder die Stirn bieten kann. Sie stacheln sich ständig an.

Der Käfig wirft lange Schatten. Als George Ende der 90er Jahre bei Hertha spielt, hat niemand dort Nerven für einen schwierigen Jugendlichen. Bei George gewinnt daher der Käfig: herumlungern, Party, zu viel Energie in jungen Männern mit starken Körpern und verletzlichem Stolz. Am Ende sitzt George acht Monate wegen Körperverletzung in U-Haft.

Kevin half aus dem Käfig, dass er unter Druck noch besser spielt als sonst. Ganz entkommen ist er nie. Zuerst versucht er, den Käfig hinter Goldketten zu verstecken. Doch spätestens, als er 2010 mit einem Tritt Michael Ballacks Nationalmannschaftskarriere beendet, ist der Käfig wieder da. »Ramboateng«, schreiben die Zeitungen über den »Täter«, Ballacks Umfeld droht milieubewusst mit der Justiz. Kevin haut zurück: Er habe das Team von Ballack »befreit«. Da wird der Käfig auch für Jerome zur Schublade. Erst werden auch seine Fouls mit dem Wedding erklärt, dann ist er der »gute« im Unterschied zum »bösen« Boateng. Deutsche Journalisten bedrängen ihn, bis er etwas sagt, das sie als Distanzierung vom Bruder zitieren können. Kevin sieht sich verraten und bricht den Kontakt ab.

Auch jetzt, wo sich Jerome auf die EM vorbereitet, die sich Kevin mit seiner Trotzentscheidung für Ghana verbaut hat, ist Kevin Boateng für Journalisten abgetaucht. Dafür haben sich George und Jerome für Horenis Buch viel Zeit genommen. Auch für Kevin, wie Jerome sagt. Er möchte, dass die ganze Geschichte erzählt wird, vor allem über George und Kevin, die anders als er keine Trostspender hatten, wenn auf ostdeutschen Plätzen »Neger« gebrüllt wurde. Indem sie Einblick in die Welt des Käfigs geben, bitten sie darum, sie endlich aus ihm zu entlassen.

Horeni war eine gute Wahl. Sensibel und spannend vermisst er das Kräftefeld zwischen »Schland« und Sarrazin, dem junge Männer ausgeliefert sind, die etwas können, was dieses Land liebt, aber etwas darstellen, was viele fürchten und verachten. Die Doppelmoral, mit der in diesem Kräftefeld geurteilt wird, bringt Jerome im Buch auf einen exakten Punkt: Läuft es gut, erkennt man viel Deutsches in dem jungen Mann. Passiert etwas Negatives, dann zeigen alle auf den Ausländer.

Michael Horeni: Die Brüder Boateng. Tropen-Verlag. 272 S., geb., 18,95 €.

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