Ästhetik versus Kulturkritik

Karl Heinz Bohrer: »Selbstdenker und Systemdenker«

  • Werner Jung
  • Lesedauer: 2 Min.

Die neue Essaysammlung des langjährigen Merkur-Herausgebers und emeritierten Professors für Literaturwissenschaft Karl Heinz Bohrer spannt den Bogen von der mittelalterlichen Philosophie über die Frühromantik und frühe ästhetische Moderne des 19. Jahrhunderts bis zum Hollywood-Western oder Jonathan Littells Roman »Die Wohlgesinnten«.

Th. W. Adorno hätte dasjenige, womit sich Bohrer beschäftigt, den geheimen Unterstrom nicht nur der deutschen Geistes-, Kultur- und Literaturgeschichte genannt. Tatsächlich argumentiert Bohrer nachdrücklich und mit der ihm eigenen Polemik gegen ein Denken, das sich an Ideen orientiert, wie immer diese aussehen mögen. Deshalb spricht er auch von einem »ideenskeptischen Diskurs«, wie er ihn z. B. im Denkstil der deutschen Frühromantiker, insbesondere bei Friedrich Schlegel, ausmacht. Bei diesem erkennt Bohrer ein Denken, das die Bedeutung des Ästhetischen hervorhebt, jenseits von Ethik, Moral und Recht, von Wahrheit und Logik. Ästhetik ohne weitere Referenz.

In solcher Referenzlosigkeit sieht Bohrer auch das Gütesiegel moderner Kunst. Deren Ästhetik halte sich an der Oberfläche auf, es gehe ihr, so Bohrer, um die »Erfassung intensiver Phänomenalität«, wozu er eine illustre Reihe von Gewährsmännern ins Feld führt, Schlegel, Baudelaire, Nietzsche. »Es handelt sich um Ereignisse, die, auch wenn sie dem rein Feststellbaren zugehören, jedes Mal wie ein Signal anmuten, ohne dass man genau angeben könnte, was für ein Signal es ist«, so zitiert er André Breton

Auf dem Hintergrund der Hochschätzung des Ästhetischen, die Bohrers Denken seit seinen ersten Veröffentlichungen Anfang der 70er Jahre über seine Habilitation zu Ernst Jünger bis zu den jüngsten Publikationen, etwa »Das Tragische« (2009), charakterisiert, schlägt er seine Volten gegen die akademische Philosophie, die sogenannten Systemdenker, um dagegen die Selbstdenker in der Tradition des Essayismus eines Montaigne oder Pascal zu empfehlen. Besonderes Augenmerk widmet er gleich in mehreren Arbeiten der Philosophie von Jürgen Habermas, dessen Monographie »Der philosophische Diskurs der Moderne« von 1985 er einer gründlichen Kritik unterzieht. Bei aller Bedeutung des Philosophen, die auch Bohrer konzedieren muss, sieht er in ihm letzten Endes einen Typ Denker, der - in Fortsetzung der alten Frankfurter Schule um Adorno und Horkheimer - Kulturkritik betreibt und damit ein Denken fördert, das, wie Bohrer glaubt, zu einem »eschatologischen Hass« führen kann, den er in der Weiterentwicklung des 68er-Ideenguts zur RAF sieht.

Bohrers Essays sind seit jeher anregend und aufregend zugleich, denn sie reizen zum Widerspruch, provozieren zur Gegenrede - was ließe sich letztlich Besseres über die Gattung Essay und ihren Denkstil sagen?!

Karl Heinz Bohrer: Selbstdenker und Systemdenker. Über agonales Denken. Hanser, 224 S., brosch., 19,90 €.

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