Girren und Windpferch
Poesiealbum Lehmann
Natur ist ein Ursprung aller Dichtung. Aus Wahrnehmen entsteht Wahrhaben. Des Nebenseitigen. Des Abseitsglanzes. In jeder Gänseblume träumt ein Gleichnis davon, als Zeichen für Welt und Werden und Verwitterung erkannt und erkoren zu werden. Aber die Gänseblume ist allein schon ein sichtbarer Traum, nicht nur Transporteur für womöglich Wichtigeres. Gänseblumen leben wie Gedichte über die Natur gefährlich: Zertramplungsnot allenthalben. Sie können in Zeiten hineingeraten, da sie sich arg rechtfertigen müssen. Brechts Notiz vom »Gespräch über Bäume« erzählt davon: Wer in bestimmter Epoche über Natur spricht, hat nur eine besondere Form gefunden, feige, ignorant über das Böse der Zeit zu schweigen.
Wilhelm Lehmann (1882 in Venezuela geboren, 1968 in Eckernförde gestorben) ist ein Dichter der fallenden Blütenblätter, ein Rufer der »südlichen Stunde«, ein Atmer des Lichtstreifs im Januar, ein Bleiber im Sommerrausch. Er belastet die Jahreszeiten, Gräbergegenden, »Schattenblumen« und »Altjahrsabende« nicht mit gedanklicher Projektion, er benutzt Natur nicht, er bietet dem Mond und dem Wind, den Sternen und dem Löwenzahn, dem Kuckuck und dem Frostspanner die Sprache als puren Entfaltungsraum an, in dem keine Pflicht zu Symbolik und Bedeutung besteht. So wird Dichtung Frieden.
1981 stand in der DDR-»Wochenpost«, Lehmann, zu Zeiten Hitlers ein innerer Emigrant hoch im Norden Deutschlands, sei »ein exemplarischer Fall, wie zeitlose Dichtung heute nicht weiterführen« könne. Weiterführen? Kein unbedingter Auftrag für Verse. Das Alte altert nicht. »Windpferch«, das »Girren um meine Knie«, die »Flügelschuhe« - Lehmann erscheint in seinen Versen als freundlichster, aber auch störrischster Fremder im Reißen der härteren Welten um den jeweilig geltenden Fortschritt. Er ist ein vertrackt Abwesender wie Robert Walser; und es ist ein schöner, furchtlos federleichter Wurf auf den brausenden Markt, den der Märkische Verlag hier wagt, mit dem »Poesiealbum 277«, herausgegeben von Richard Pietraß, Auswahl: Axel Vieregg. Peter Handke wird im Heft zitiert, er schreibt, Lehmanns Lyrik mache »maulwurfsblind«. Treffliches Wort für das Dunkelleuchten in diesen Versen; das Innerste der Welt erscheint als Rätsel, und das Lesen wird zur großen Bitte an dieses Rätsel, bloß nicht seine Lösung zu gestehen.
● Poesiealbum 297. Wilhelm Lehmann. Märkischer Verlag Wilhelmshorst, 32 S., 4 Euro.
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