»Müllverträge« auf Polens Arbeitsmarkt
Ausbeutung mit dem Segen der Europäischen Union
Polens Arbeitslosenquote beläuft sich offiziell auf 12,3 Prozent (Deutschlands auf 6,6). Aber nicht nur diese Ziffer überschattet die Beschäftigungsverhältnisse. Als »Müllverträge« werden hierzulande, wie es im bürokratischen Jargon heißt, »zivilrechtliche Verabredungen« zwischen Arbeitgebern und Arbeitsuchenden bezeichnet, durch die reguläre feste Beschäftigungsverhältnisse umgangen werden.
Während im gesamten EU-Raum 14 Prozent der Beschäftigten auf »flexibel befristete Arbeitsgelegenheiten« angewiesen sind, beträgt deren Anteil in Polen mehr als 30 Prozent - mit steigender Tendenz in den vergangenen Jahren. Besonders betroffen sind davon Angehörige der Generation zwischen dem 20. und dem 30. Lebensjahr. In dieser Gruppe stieg der Anteil der aufgrund von »Müllverträgen« in den Arbeitsprozess Aufgenommenen auf rund 60 Prozent.
Die unsteten, prekären Beschäftigungsformen - unter anderem in Gestalt von Zeitarbeit - ziehen für die Betroffenen verschiedene Konsequenzen nach sich. Die Vergütung ist selbstverständlich von den Qualifikationen abhängig, grenzt aber, vor allem im Handel, meistens an den Mindestlohn. Kündigungsschutz ist theoretisch. Zu den schlimmsten Nachteilen gehört der Streit zwischen den »Arbeitsmarktpartnern« darum, wer die Versicherungskosten zu tragen habe. In sehr vielen Fällen werden die Leute nämlich in eine scheinbare »Selbstständigkeit« gedrängt. Sie bekommen Arbeit unter der Bedingung, dass sie sich als »Unternehmer« anheuern lassen. Davon gibt es in Polen derzeit 2,7 Millionen.
Das wiederum wirft die Frage nach der Haltung der Gewerkschaften zu derartigen »alternativen Beschäftigungsfeldern« auf. Sowohl die »Solidarnosc« wie auch die OPZZ-Verbände - in beiden ist nur ein Sechstel aller Arbeitnehmer organisiert - protestieren im Rahmen der »Dreiseitigen Kommission« von Gewerkschaften, Unternehmerverbänden und Regierung gegen die von ihnen als Ausbeutung charakterisierten »Müllverträge«. Sie werden jedoch von den Vertretern der Regierung und der Arbeitgeber mit dem Hinweis abgewiesen, dass ohne derartige prekäre Beschäftigungsverhältnisse die Erwerbslosigkeit noch höher wäre. Eigentlich sind die Arbeitnehmerverbände auch in dieser Frage machtlos.
Jozef Buzek sagte in einem Abschiedsgespräch über seine Errungenschaften als Präsident des Europäischen Parlaments, er habe der EU den Vorschlag hinterlassen, das Problem in den nächsten zwei bis drei Jahren »allgemein zu regulieren«. In welche Richtung eine solche Regulierung führen soll, liegt auf der Hand. In einem Flugblatt, das polnischen Tageszeitungen beilag, wurden Arbeitsuchende zu kostenlosen Schulungen für die EU-Strategie der »Flexicurity« eingeladen. Sie soll den Unternehmerbedarf an »flexiblen« Arbeitskräften mit deren Bedürfnissen nach Sicherheit vereinen. Das Flugblatt wurde aus dem Europäischen Sozialfonds und den EU-Geldern für das »Humankapital« finanziert.
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