Das Guttenberg-Syndrom
SPD-Chef Gabriel befürchtet »Staatskrise«: Wulff soll im Amt bleiben
Ausgerechnet der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel hat sich nun dafür ausgesprochen, den von vielen kritisierten Bundespräsidenten Christian Wulff (CDU) im Amt zu halten. Auch der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche, Nikolaus Schneider, und der katholische Osnabrücker Bischof Franz-Josef Bode halten einen Rücktritt Wulffs nicht für angebracht. »Menschen in politischen Ämtern müssen frei bleiben, ihren Freundeskreis selbst zu wählen und zu pflegen«, sagte etwa Präses Schneider. Dabei hat gar niemand Wulff für die Wahl seiner »Freunde« kritisiert, wie Schneider offenbar annimmt. Vielmehr wird dem Bundespräsidenten vorgeworfen, von einem stark vergünstigten Immobilienkredit profitiert und in seiner Zeit als niedersächsischer Ministerpräsident teilweise gratis Urlaub in Ferienhäusern und Villen befreundeter Unternehmer gemacht zu haben und all dies vor der Öffentlichkeit verborgen zu haben. Erstaunlich ist in diesem Zusammenhang jedoch nicht, dass hierzulande unter Industriellen und Politikern zweifelhafte Geschäfte gemacht werden. Beunruhigend ist vielmehr, dass Politiker nach dem Bekanntwerden ihrer Verfehlungen hartnäckig an ihrem Amt kleben.
In seiner Weihnachtsansprache, die am Sonntag im Fernsehen ausgestrahlt wurde und in der Wulff salbungsvoll daherschwadronierte, äußerte er sich mit keinem Wort zu den Vorwürfen.
Interessant ist vor allem Sigmar Gabriels völlig skurrile Begründung dafür, warum Wulff sein Amt behalten soll: »Es wäre verheerend und nahe an einer echten Staatskrise, wenn innerhalb von zwei Jahren zum zweiten Mal ein Bundespräsident zurückträte«, sagte der SPD-Vorsitzende der Zeitung »Die Welt«. »Rückhaltlose Aufklärung soll nicht zum Rücktritt, sondern zu einer Rückkehr in eine angemessene und glaubwürdige Amtsführung führen.« Folgt man dieser Argumentation, dürften Spitzenpolitiker - offenbar unabhängig von ihren Verfehlungen - erst dann von ihrem Amt zurücktreten, wenn der Rücktritt ihrer Vorgänger schon lange genug her ist.
Unter Spitzenpolitikern ist das Verhalten, eigene Vergehen und Fehler zuerst nicht, dann scheibchenweise und nur unter größtem öffentlichen Druck einzuräumen und Affären bis zum bitteren Ende auszusitzen (»Guttenberg-Syndrom«), mittlerweile üblich. Eine »Staatskrise« wird jedenfalls ausbleiben. Sie blieb auch aus, als der ehemalige Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) oder der seinerzeit den Medien zufolge angeblich so populäre Horst Köhler (CDU), der Amtsvorgänger Wulffs, von ihren Ämtern zurücktraten. Wenigstens ist davon, dass die Bevölkerung sich händeringend und bittere Tränen vergießend auf Straßen und Plätzen versammelte, nichts bekannt.
In der neuen App »nd.Digital« lesen Sie alle Ausgaben des »nd« ganz bequem online und offline. Die App ist frei von Werbung und ohne Tracking. Sie ist verfügbar für iOS (zum Download im Apple-Store), Android (zum Download im Google Play Store) und als Web-Version im Browser (zur Web-Version). Weitere Hinweise und FAQs auf dasnd.de/digital.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.