Steingut

Franz Hohler erzählt

  • Alfons Huckebrink
  • Lesedauer: 3 Min.

Ein simpler gelber Bleistiftstummel, aufgehoben bei dem verfallenen Turm, liefert Franz Hohler die Zündidee zu einer Geschichte (»Der Bleistiftstummel«) mit sieben Folgen und einer möglichen Schlussfolgerung: Wer sich als Autor nicht zu schade ist, nach dem Geringsten zu blicken, sich nach dem achtlos Weggeworfenen zu bücken, hebt einen erzählerischen Schatz. Der Stein aus der Titelgeschichte hingegen, vor zwanzigtausend Jahren mit dem Linthgletscher nach Zürich gekommen, ist etwas zielstrebig Geworfenes, aus der Hand eines verängstigten 14-Jährigen, geschleudert am 1. Mai, gezielt auf einen martialisch ausstaffierten Polizisten. Treffen und verletzen wird er indessen ein fliehendes Mädchen am Kopf. Nach überstandener Operation wird er ihm ausgehändigt. Die junge Frau wirft ihn am 18. Geburtstag in den Zürichsee.

Dem Buch vorangestellt ist ein Zitat von Konstantin Paustowskij (1892-1968), auf dessen Werk - heute lediglich in Antiquariaten zu haben - der Schweizer Schriftsteller im Bücherschrank seiner Eltern stieß. Über einen Kiesel von der Landstraße sagt Paustowskij, er sei traurig, dass man das Leben dieses Steins, das viele Jahrtausende währen mochte, nicht beschreiben könne.

Hohler verschreibt sich in seinen zehn Erzählungen dem banal Peinlichen ebenso wie dem qualvoll Unerträglichen, etwa in der ansteckenden Geschichte über den Juckreiz ohne materielle Ursache (Pruritus sine materia). Er führt ihn vor als lästige Angewohnheit, bläst ihn auf zur Obsession, weist nach, wie er zum Lebens(un)sinn geraten kann. Menschen, die sich kratzen, schließen sich in Selbsthilfegruppen zusammen, beobachten, analysieren und didaktisieren. Sie publizieren über ihr Problem, suchen nach prominenten Leidensgenossen ...

Ähnlich verquer läuft es auch für den Protagonisten einer Geschichte mit dem mittlerweile anachronistisch anmutenden Titel »Die Raucherecke«. »Charles hatte die Schwierigkeit, schnell eine Zigarette rauchen zu können, unterschätzt«, konstatiert lakonisch ein erster Satz, der als perfektes Understatement den beginnenden Alptraum kaum erahnen lässt. Der Musiker Charles wird von der Sucht im Zeitalter eines allumfassenden Rauchverbots auf skurrile Abwege getrieben, verzweifelt schließlich, zusammen mit einer Leidensgenossin, hoch oben auf dem Hoteldach am böigen Wind. Der Rückweg ist blockiert.

Wie stets nehmen Hohlers Geschichten ihren Ausgang an den Bruchstellen der Realität, sind auf der Suche nach dem Regelsprengenden. Sie sondieren beharrlich, öffnen einen Spalt für das Unvernünftige, erzählen vom Surrealismus des Alltäglichen. Das Unwahrscheinliche wird indessen im Gestus allergrößter Wahrscheinlichkeit abgebildet. Eine Arbeitsweise, die Hohler in einem Gespräch mit dem Schweizer Rundfunk DRS als »Tatsachenberichte aus der Fantasie« zutreffend bezeichnete. »Unsere Welt braucht Schmuggler, Schmuggler wie dich und mich. Zöllner hat sie genug«, erklärt der Maler Rousseau (genannt »Der Zöllner«) in der Geschichte »Ein Nachmittag bei Monsieur Rousseau« seinem jungen Schüler. In Hohler hat sie einen gewieften Grenzgänger gefunden. Seine Konterbande sind Irritationen aus der Welt des Unwahrscheinlichen. Seine Erzählkunst formt sie zu sprachlich geschliffenen, fantasievoll funkelnden Edelsteinen. Steingut eben.

Franz Hohler: Der Stein. Erzählungen. Luchterhand. 144 S., geb., 18,99 €.

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