Stimmengewirr

Annett Gröschner erzählt Berliner Alltag

  • Jenny Becker
  • Lesedauer: 3 Min.

Was haben Sie am 30. April getan? Diese Frage bildete den Ausgangspunkt für den Berlin-Roman von Annett Gröschner. Die Walpurgisnacht in der deutschen Hauptstadt ist legendär, bekannt vor allem wegen der Randale. Doch im Buch geht es um den »Walpurgistag« - so der Titel dieser Episodensammlung - und darum, was sich in den Leben ganz normaler Berliner an einem einzigen Tag abspielt.

Die Autorin, geboren 1964 in Magdeburg und seit 1983 Wahlberlinerin, verbreitete ihre Frage über Zeitungen, Radio, Internet und bekam viele Zuschriften. Sie waren gewiss Impulsgeber für so manche Geschichte, doch von einer Dokumentation kann hier keine Rede sein, obwohl die Kapitel akribisch von »0.00 Uhr« bis »24.00 Uhr« benannt sind. Die Titelzusätze wecken zwiespältige Gefühle. »Katrin Manzke verkocht ein Ei und hat einen Termin beim Arbeitsamt«, heißt es um 9 Uhr oder: »11.55 Uhr. Alex stolpert über ein Loch im Gras.« Lustig oder langweilig?

Die Antwort nach der fast 500-seitigen Lektüre lautet: beides. Mal so mal so, ganz wie das Leben eben. Gröschner liebt das Fabulieren, ihr Schreibstil kann sich ihren Figuren anpassen. Besonders der Berliner Schnauze ist sie liebevoll zugetan. Zusammen mit ihrem Gespür, Stadtgeschichte und die Lebenswelt der DDR einzuweben, ist das eine gute Voraussetzung, um die Berliner Wirklichkeit abzubilden.

Gröschner blickt vor allem auf jene am Rand der Gesellschaft - auf Rentner, Hartz-IV-Bezieher, Migranten, alleinerziehende Mütter, Obdachlose. Zum Glück ohne moralischen Zeigefinger. Denn nicht das Am-Rand-Stehen ist hier Hauptsache, sondern die Ähnlichkeit der Menschen beim Versuch, irgendwie durchs Leben zu kommen. Das kann mitunter recht skurril zugehen.

Da ist zum Beispiel Annja, deren Vater seit Jahren in einer Kühltruhe eingefroren ist - lebendig und ohne Stromanschluss. (Ein Gespann, das schon in Gröschners erstem Roman vorkam.) Wegen dieser merkwürdigen Situation lebt Annja im Untergrund, wo sie sich unter anderem mit dem Obdachlosen Alex angefreundet hat.

Herzallerliebst sind die drei alten Damen, Ur-Berlinerinnen, die über die Latte Macchiato-Bohème im Prenzlauer Berg wettern und schon ganz andere Zeiten erlebt haben. Beiläufig puzzelt Gröschner Mosaiksteinchen der Nachkriegsgeschichte in den bunten Geschichtenteppich. Etwa, als die Rentnerinnen, der Langeweile des Altenheims entfliehend, die Schönhauser Allee entlang schlendern. Und sich erinnern, wie dort die Toten gestapelt lagen, während stumme Mütter die Reihen absuchten. »Eigentlich is det'n Rabenaas von Straße«, lautet ihr schlichtes Fazit.

Auch die DDR-Geschichte dringt immer wieder durch die Zeilen. Etwa wenn die Rentnerinnen »DDR-türkisch mit viel Kondensmilch« bestellen oder erzählt wird, wie die Ostberlinerin Heike Trepte bei ihrer ersten Schwangerschaft Luftsprünge machte, weil der Erzeuger ein One-Night-Stand aus dem Westen war, der ermöglichte, legal aus dem Land zu kommen.

So viele Schicksale. Zwei Männer mit Midlife-Crisis, eine jugendliche Mädchenbande, ein Junge mit einer Alkoholikermutter - sie sind nur ein kleiner Teil der handelnden Personen. Es sind zu viele, ein wahres Stimmengewirr. Gewiss, eine Großstadt ist ein loses Netz aus Geschichten, irgendwie miteinander versponnen, jede für sich. In diesem Sinne ist »Walpurgistag« ein guter Großstadtroman, spiegelt er diese Getrenntheit und Überfülle doch genau. Aber für den Leser ist das mitunter eine Last. Zu den Personen lässt sich nur schwer eine Beziehung aufbauen, manche tauchen erst nach 100 Seiten wieder auf - und oft hat man bis dahin bereits vergessen, hinter welchem Namen sich welche Lebensgeschichte verbarg. Weniger wäre mehr gewesen.

Annett Gröschner: Walpurgistag. DVA. 448 S., geb., 21,99 EUR.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.