Sylvie, die Sanfte, hat Attacken

François Lelord und »Das Geheimnis der Cellistin«: Der Bestsellerautor als Psychiater

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 4 Min.

Bislang hieß es umgekehrt: der Psychiater als Bestsellerautor. Denn François Lelord praktiziert nicht mehr, er lebt vom Erfolg seiner Bücher. »Hectors Reise oder Die Suche nach dem Glück«, »Hector und die Geheimnisse der Liebe« usw. oder »Im Durcheinanderland der Liebe«: Therapie in literarischer Form. Vorliegendes Buch hat er verfasst, als er vor zwanzig Jahren als junger Arzt vormittags im Krankenhaus arbeitete und nachmittags in seiner privaten Praxis in Paris. Er soll psychische Störungen heilen, aber er findet sie auch interessant. Er ist neugierig auf seine Fälle, neugieriger, als es Ärzte gewöhnlich sind, die im Laufrad ihrer Routine strampeln.

Und er weiß, auch für Leser ist das Abnorme, Geheimgehaltene von Reiz. Es muss natürlich einigermaßen »appetitlich« aussehen. Kranke dürfen nicht schreien, um sich schlagen, gar festgebunden werden müssen. Es gibt nichts im Buch, wovor man zurückschrecken würde. Lelords Patienten sind auf ihre Weise ebenso nett wie bedauernswert; Leser können sich freuen, nicht an ihrer Stelle zu sein, und können auch aufatmen, denn, wenn nicht Heilung, gibt es doch Linderung für jeden. So ist das Buch ein Versprechen: Sorgt euch nicht. Wir, die Ärzte, wissen, wie man euch hilft. Die Pose, die Lelord gegenüber seinen Patienten einnehmen muss - das Begütigende, Beschwichtigende - ist seit jeher auch in seinem Schreiben.

Neun Geschichten, die jeweils damit beginnen, dass jemand ins Krankenhaus oder in die Praxis kommt. Manchmal ist eine Freundin dabei, die Ehefrau oder die Mutter. Immer war eine Schwelle zu überwinden, sich an einen Psychiater zu wenden. Mögen psychische Störungen für die Umwelt auch dubios, gar belastend sein, empfinden sie Betroffene oft als Teil ihrer Persönlichkeit. Ohne einen gewissen Leidensdruck würden sie sich nicht helfen lassen.

Zum Beispiel Monsieur A.: Er betrachtete sein Leben als einen Kampf gegen die Stoppuhr, fand aber nicht, dass er unter Stress litt. Die Schlafstörungen und die Kopfschmerzen sollten weg, weil sie seine Leistungsfähigkeit minderten. Ein Mann in leitender Position - wir hatten nichts anderes erwartet (wer sehr auf Unerwartetes aus ist, sollte Lelord nicht lesen): Wie er langsam, langsam versteht, was in seinem Leben und bei ihm nicht stimmt, wird so beschrieben, dass man auch über die eigene Situation ins Nachdenken kommt.

Ein Fall muss aufgeklärt werden - den Anfang macht immer dieses Sherlock-Holmes-Muster. Eine Frau erscheint mit Handschuhen und gibt dem Psychiater nicht mal damit die Hand. Eine andere - besagte Cellistin aus der Titelerzählung - bekennt, dass sie sich nicht mehr aus dem Hause traut. Und die sanfte Sylvie leidet unter Fressattacken. Ein junger Mann kommt in die Notaufnahme, weil er überzeugt ist, wahnsinnig zu werden. Einem anderen ist es nur mit Mühe zu entlocken, dass er Stimmen hört, »die Uluten«, die in ihn hineinhorchen, ihm etwas befehlen, ihn verspotten. Monsieur D., Börsenmakler im Höhenflug, vermutet im Arzt einen Weisen, der ihm Botschaften zu senden vermag. Monsieur B., auch in leitender Position, will nicht mehr leben. - Am traurigsten der Fall des kleinen Luc, der sich selber verletzt, besonders dann, wenn er einen Bissen zu sich nimmt.

Lelord beschreibt, wie er zu einer Diagnose kommt und welche Behandlung er einleitet. Meist kombiniert er Psychopharmaka mit kognitiver Verhaltenstherapie. Wie Zeit und Kosten in der Medizin eine immer größere Rolle spielen, bleibt ausgeklammert. Stressstörung kurz vorm Burn-out (der Begriff war noch nicht in Mode, als das Buch entstand), Zwangsneurose, Agarophobie, Bulimie, Panikattacken, Schizophrenie, Manie, Depression, Autismus werden erklärt. Und die Therapie, die immer irgendwie anschlägt. Als Anhang eine sehr respektable Liste - 24 kleingedruckte Seiten! - weiterführender Literatur, schließlich sollten auch Fachkollegen nicht die Nase rümpfen. Und zu jeder Geschichte ein Kapitel »Nach zwanzig Jahren«, in dem heutige Therapieansätze beschrieben werden. Besonders interessant die Erkundungen zu den jeweiligen Ursachen der Erkrankungen. Fazit dennoch, dass wir oft im Dunkeln tappen, dass wir vom Menschen und seinen Möglichkeiten immer noch nicht genug wissen.

François Lelord: Das Geheimnis der Cellistin. Beinahe normale Fälle eines ungewöhnlichen Psychiaters. Aus dem Französischen von Ral Pannowitsch. Piper Verlag. 380 S., geb., 19,95 €.

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