»Wie es sich gehört ...«

Jewgeni Samjatin und die Tragödie der »Intelligenzija«

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 5 Min.

Er war schon vor 1905 Mitglied der RSDRP, zeitweilig inhaftiert, mehrmals verbannt. Er hatte den Umsturz gewollt und noch im Januar 1918 in seinem Aufsatz »Intelligenzija und Revolution« zur Zusammenarbeit mit den Bolschewiki aufgerufen. Damit konnte sich Jewgeni Samjatin an der Seite vieler bekannter russischer Künstler wissen, die den Sturz des Zarenreichs so sehr ersehnt hatten, dass sie das Neue begrüßten – wie auch immer es sich zunächst gestalten mochte. So ließ Alexander Blok 1918 in seinem berühmten Revolutionspoem »Die Zwölf« zwölf Rotgardisten durch Petrograd schreiten – »majestätisch« – und vor ihnen »mit blutiger Fahne,/ unter Wind und Schneegeleit/ gegen Blick und Blei gefeit,/ Eisperlschimmer, Fleckenglosen/ um den Kranz aus weißen Rosen/ und voll Sanftheit jeder Schritt,/ schreitet Jesus Christus mit ...« Du lieber Gott, denkt man heute, und versteht doch, wie sich ein so Feinsinniger ans Pathos klammerte, wie er seinen Traum beschwor.

»Wer denkt heute noch ans Schreiben«, sagte Blok zu Samjatin. »Ich versuche Geld aufzutreiben.« – Diese Szene spielte sich auch im Jahre 1918 ab.

Drei Essays von Jewgeni Samjatin – ein schmales Bändchen, das uns die widersprüchliche Realität dieser Revolution vor Augen führt (in der ja letztlich auch die DDR ihren Ursprung hatte). Und jene Utopie, die damals – und bis zuletzt – sich gegen die Realität behaupten wollte, an ihr scheiterte. »Wer sein Ideal im Heute gefunden hat«, schreibt Samjatin 1919 in seinem Aufsatz »Morgen«, »ist wie Lots Weib, ist schon zur Salzsäule erstarrt«. So wie die Welt nur »von den Ketzern« lebt, sei »das Morgen ... mit Gewißheit eine Ketzerei für das zur Salzsäule erstarrte Heute«. Trostgewinn aus der Dialektik – wie gut man das kennt!

Ein Jahr später schon eine entschiedenere Aussage und dennoch vorsichtig in der Argumentation. »Ich fürchte, wir bewahren zu sorgsam und zu Vieles von dem auf, was als Erbe von den Palästen auf uns gekommen ist.« Das »Institut der Hofpoeten« – er weiß genau, worin es seine Wurzeln hat: in einer Macht, die sich nur allzu gern feiern lässt und dadurch die »Flinken« auf den Plan ruft, die damit ihr Geld verdienen. Von den Adelsgütern des 19. Jahrhunderts aus war's befreiend für die eigene Seele, die Befreiung eines Jeden zu proklamieren. Aber inmitten der allgemeinen Armut nach der Revolution, inmitten der neuen Verteilungskämpfe – wovon leben?

Samjatin und seine Freunde hatten sich nicht vorgestellt, »mit der Aktentasche zum Dienst« zu gehen. Ach wie bitter: »In unseren Tagen – liefe Gogol mit der Aktentasche in die Theatersektion; Turgenev in der ›Weltliteratur‹ übersetzte, zweifelsohne, Balzac und Flaubert; Herzen hielte Vorträge vor der Baltflot; Cechov stünde im Dienste des Komzdrav.« – Gut so, werden jene Funktionäre gesagt haben, an die sich die verzweifelte Argumentation richtete. »Die Hauptsache ist«, ruft Samjatin, »daß wahre Literatur nur dort leben kann, wo sie nicht von zuverlässigen Vollzugsbeamten gemacht wird, sondern von Wahnwitzigen, Abtrünnigen, Ketzern, Träumern, Aufständigen, Skeptikern.« Und er bringt es auf den Punkt: Wenn man nicht aufhört, das Volk »als Kind anzusehen, dessen Unschuld bewahrt werden soll«, würde es »wahre Literatur« nicht geben.

So hatte es begonnen, und so ging es weiter über die Jahrzehnte. Mit kunstreichen Beschwörungen, die Literaten von Generation zu Generation immer aufs Neue formulierten und die doch abprallten am entschiedenen Willen der Macht. Als die Macht dann zurückwich, war es mit ihr vorbei. Als hätte sie nur auf selbstherrliche Weise existieren können ...

Bitterkeit: Als Samjatin 1921 seine »Erinnerungen an Blok« schrieb, ist mit dem Dichter schon etwas Größeres zu Tode getragen. »Eingeschlossen in ein stählernes Geschoß ... mußten wir etwas tun, uns einrichten und leben ... lächerliche Vorhaben: die ›Weltliteratur‹, der Verband der Schaffenden des künstlerischen Wortes, der Schriftstellerverband, das Theater ...« Ja, auch das blieb so: Man musste etwas tun, weil man leben und arbeiten wollte, »wie es sich gehört«.

»Wie es sich gehört« – mehrfach hörte Samjatin das von Alexander Blok. Übersetzen »wie es sich gehört«, auch wenn man für zwölf Zeilen zwei Stunden braucht. Und wenn man nicht schreiben und nicht veröffentlichen kann, »wie es sich gehört«, dann muss man es lassen. »Es geht nicht, Kunst kann Wissenschaft nicht transportieren.« Und dennoch diese Anhänglichkeit an das Land, den Staat in Liebe und Hass...

Die ganze Problematik der Kunst im Sozialismus steckt in diesen wenigen Seiten. Und auch wie Blok starb, war bezeichnend. Er wurde krank, bekam keine Luft, er hätte in ein Sanatorium gemusst. Gorki ging mit den Papieren von Instanz zu Instanz. Schließlich kam die Genehmigung, dass Blok in ein finnisches Sanatorium reisen durfte – zu spät.

Jewgeni Samjatins Roman »Wir« von 1920 (erst 1988 in der UdSSR vollständig veröffentlicht) war ein Aufschrei. Das Porträt einer Gesellschaft, die jegliche Individualität unterdrückt – damit zog sich der Autor den Hass der Parteiführung zu. Ein Ausreisevisum lag ihm vor, er nutzte es nicht. Mit der Gründung der Zeitschrift »Russki sowremennik« gemeinsam mit Kornej Tschukowski unternahm er 1924 den Versuch, »das Beste an neuer russischer Literatur zu bündeln«, schreibt Peter Urban in seinem Vorwort. Bereits nach ihrer vierten Ausgabe wurde die Zeitschrift verboten. 1931 erhielt Samjatin durch Fürsprache Gorkis die Erlaubnis Stalins, nach Frankreich auszureisen, wo er 1937 starb. Bis zuletzt behielt er die sowjetische Staatsbürgerschaft.

Peter Urban ist die Herausgabe und Übersetzung dieses Bandes zu danken, auch die ausführlichen Anmerkungen, aus denen man viel über Hintergründe erfährt. Wie in allen seinen Arbeiten, blieb Urban auch hier der wissenschaftlichen Transkription treu, deren korrekte Wiedergabe allerdings typografische Sonderzeichen zur Voraussetzung hat, die im ND-Schriftsatz nicht vorhanden sind. In der DDR, schreibt Peter Urban, wurde eine vierbändige Werkausgabe konzipiert, die 1990 im Gustav Kiepenheuer Verlag erschien, doch ging sie »in der Aufregung um die Wiedervereinigung unbemerkt unter, ehe der Verlag von der ›Treuhand‹ vereinnahmt wurde«.

Evgenij Zamjatin: Ich fürchte ... Essays 1919-1921. Aus dem Russsichen und mit einem Vorwort von Peter Urban. Friedenauer Presse. 32 S., brosch., 9,50 €.

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