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Das Unzerstörbare
Philipp Meyer: Mit »Rost« gelang ihm ein Meisterdebüt
Er hatte den Absturz miterlebt, wie alle Stahlwerke verrammelt wurden und die große Wanderung einsetzte. Wanderung ins Nirgendwo – Tausende Leute zogen um ..., in der Hoffnung, Arbeit auf den Bohrinseln zu finden, aber solche Stellen gab es auch nicht oft. Und so standen die Menschen nachher schlechter da als vorher, pleite, arbeitslos und in der Fremde ... Und die anderen waren schlicht verschwunden ... Harris kannte Leute ... stämmige Stahlarbeiter, die mit steinernem Gesicht die Lebensmittel an der Kasse in Tüten einpackten.« Als die Stahlwalzwerke und der Waggonbau schlossen, ist das ganze Tal in die Knie gegangen. Träge wälzen sich die Kohleschleppkähne auf dem verdreckten Fluss an Industriebrachen, kaputten Lagerhallen und zerfallenden Schornsteinen vorbei, der Fluss, in den Isaacs Mutter vor fünf Jahren gegangen war. Weiter unten, am alten, verrosteten Schleusengitter hatte man sie dann gefunden.
Alles rostet hier, die alten Fabriktore, die Brückengeländer, die Bahngleise, die Autos, die Seelen der Menschen. Schon fällt das Land in den Naturzustand zurück, schon kommen die Hirsche aus den Wäldern in die Gärten. Nein, wir sind nicht in Bitterfeld, nicht irgendwo an Rhein oder Ruhr oder in der alten belgischen Bergbauregion Borinage. Wir sind in einer gottverlassenen Gegend irgendwo in Amerika. »Man wollte gerne an Amerika glauben«, sinnieren Isaac oder Poe einmal unterwegs, doch jeder weiß, »dass die Deutschen und die Japsen« jetzt ebensoviel Stahl produzieren und die ganzen teuren Autos dort gebaut werden ... »die Zeit des Ruhms ist vorbei«.
Wie sich die Bilder gleichen! Das ist das Erschreckende und Faszinierende dieses US-amerikanischen Gegenwartsromans. Seit auch Isaacs Schwester Lee mit einem Stipendium an eine Elite-Uni verschwand und den reichen Simon geheiratet hat, ist er mit dem invaliden, mürrischen Vater allein. Kann nicht weg, und will doch weg. Und dann ist da noch Poe, der ihn im letzten Winter aus dem eiskalten Wasser zog, als er noch viel weiter weg wollte, vielleicht zu den Sternbildern, deren Bahnen er so gut kennt, weil er einen klugen mathematischen Kopf hat.
Poe dagegen, der behäbige Praktiker, hat die Träume längst ausgeträumt. Er wird aber auch verhätschelt, von der wieder aufgetauchten, liebeshungrigen Lee und von seiner Mutter Grace. Die ist vom Schicksal und Poes Vater nicht verwöhnt, vielmehr ständig betrogen worden, und – wie man das so nennt – sozial vom unteren Rand des Mittelstandes ein ganzes Stück nach unten gerutscht. Zum Glück gibt es noch den schon erwähnten, korrekten Chief Harris, der Grace von ganzem Herzen liebt. Ohne ihn ginge alles viel, viel schlimmer aus, denn schon bald wird es kriminell. Das ist in dieser zerstörten und verrosteten Umwelt kein Wunder.
Eines Tages (oder Nachts) macht sich Isaac zu Fuß auf den Weg Richtung Kalifornien, um sich seinen Traum von einem Universitätsstudium zu erfüllen. Freund Poe geht mit. Aber bald geraten sie in Händel mit einer Gruppe Krimineller. Poe hat schon das Messer von einem der Leute am Hals, da rettet Isaac ihn und tötet den anderen dabei. Isaac kann entkommen, Poe wird verhaftet, daran kann auch Chief Harris nichts ändern. Was Poe fortan in der Haftanstalt für Schwerverbrecher erlebt, das ist haarsträubend, man kann es kaum wiedergeben. Aber auch um Isaac zieht sich die Schlinge der Verfolgung zu. Vor dem Sprung von einer Brücke entschließt er sich zur Umkehr.
Dieser Roman erzählt die Geschichte einer unzerstörbaren Freundschaft in einer zerstörten Welt. Es ist ein Buch vieler Katastrophen und weniger Glücksmomente, ein Buch vom Weggehen und Unterwegssein, aber es handelt nicht mehr vordergründig von Geschlechterkampf und Generationskonflikten, da geht es weit über Salinger oder Kerouac hinaus, es ähnelt eher den Büchern von Richard Ford. Seine große Qualität ist die nun neu gestellte Frage nach Schuld, Sühne und Verantwortung. Darin ist es ebenso vormodern wie postmodern.
Philipp Meyer: Rost. Roman. Aus dem Amerikanischen von Frank Heibert. Klett-Cotta. 464 S., geb., 22,95 €.
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