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Versfußspuren am Strand
Andreas Altmann: »Das zweite Meer«
Das Gedicht ist geschrieben. Der unbekannte Ort auf der Landkarte ist bezeichnet«, notiert Gerhard Wolf am Ende des Büchleins »Beschreibung eines Zimmers –15 Kapitel über Johannes Bobrowski« (1971). Der Ausruf kann am Anfang von Überlegungen zu Andreas Altmanns »Das zweite Meer« stehen: Auch er ist ein poetischer Landschaftsbildner.
Die sieben Abteilungen des Lyrikbandes sind formal noch strenger durchgearbeitet als in früheren Publikationen. Altmanns Zyklen bestehen aus Gedichten, die entweder zweizeilige Strophen oder Textblöcke von neun bis 18 Verszeilen umfassen. Die Gedichte sind so fragil und geschmeidig, dass es den Lesefluss förmlich behindern würde, wenn der Lyriker nicht generell auf die Großschreibung von Substantiven und Eigennamen verzichten würde. Und von Buch zu Buch, ja von Gedicht zu Gedicht überrascht Andreas Altmann immer wieder mit ganz ungewöhnlichen sprachlichen Bildern, die man so noch nicht gelesen und gehört hat. Auch deshalb erhielt er bei der 9. Mitteldeutschen Lyriknacht am 4. November 2010 im Musikgymnasium Schloss Belvedere in Weimar vom Auditorium heftigen Zwischenapplaus; was bei einer Lesung von Gedichten sonst eher die Ausnahme ist.
Im Zentrum von Altmanns Poetik steht meist die Landschaft. Und so beginnt denn auch das erste Gedicht des Bandes »Das zweite Meer« mit dem programmatischen Zweizeiler: »wenn sich die landschaft öffnet, höhlen die augen ihre räume aus.« Es sind des Autors Augen, die die Landschaft öffnen, sie in Poesie verwandeln und dem lyrischen Ich in den Mund legen.
Die Landschaftsgedichte Altmanns sind zwar verortet, aber genaue topografische Angaben sind selten. Das ist ein an Joseph von Eichendorff erinnerndes poetisches Verfahren. Auch der Spätromantiker hat seine Gedichte gern im Ungefähren schweben lassen, um so mehr Deutungsspielraum zu bieten. Andererseits finden wir im Abschnitt »das jahr an der küste« allein drei Texte, die dem Darß gewidmet sind. Aus einem Grund, der im Gedicht »an der küste« nachgereicht wird: »so nah wie am meer // sind mir worte an keinem anderen ort, hast du gesagt.« Und schon im ersten Kapitel, »tiere in bahnsteignähe« – in dem die Überschriften aus Substantivierungen bestehen –, erfahren wir, dass »das gerufene« ein Gedicht auf die Niederlausitz ist: »drahnsdorf, uckro, waldrehna und prösen werden // die orte gerufen.«
Es gilt auch hier, was Joachim Sartorius im Nachwort zu Andreas Altmanns Band »Augen der Worte« (2004) notierte: »Kein Pathos, keine großen Worte, eine fast schon schlafwandlerische Fähigkeit, mit wenigen Eingangszeilen einen weiten poetischen Raum zu öffnen.« Und so ziehen sich die Versfußspuren bei Altmann ebenso durch den Sand der Ostsee wie den der Mark und der Lausitz. Und doch entstehen seine Gedichte in Berlin. Aber die Hauptstadt, überhaupt alles Urbane, und damit Schnelligkeit und Beschleunigung, sind sein Thema nicht.
Mit »mein ich gegenüber« ist auch ein Text enthalten, in dem das lyrische Ich buchstäblich zu sich selbst findet: »ich saß mir im zug gegenüber», heißt es zu Beginn. Weil bei diesem vis-à-vis zahlreiche physiognomische Übereinstimmungen festgestellt werden, flieht das eine Ich das andere, ohne jedoch in Erfahrung gebracht zu haben, »ob ich größer bin als ich selbst«.
Ob Andreas Altmann größer ist als er selbst, vermag der Rezensent nicht zu sagen. Wohl aber, dass sich der Lyriker mit seinem neuen Gedichtband wieder einmal selbst übertroffen hat.
Andreas Altmann: Das zweite Meer. Gedichte. Verlag poetenladen. 93 S., geb., 15,80 €.
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