Unfallstufe 7 – Fukushima strahlt wie Tschernobyl

Entwicklung im AKW »unvorhersehbar« / Greenpeace legte Studie vor

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Rund um die Uhr kämpfen Japans Regierung und der AKW-Betreiber Tepco gegen den Super-GAU im japanischen Kernkraftwerk Fukushima. Die Arbeiten mussten jedoch mehrfach gestoppt werden. Greenpeace ordnet das Unglück als schwersten Unfall nach der internationalen Bewertungsskala ein. In Deutschland sorgten die Äußerungen von Wirtschaftsminister Brüderle zum Atommoratorium weiter für Turbulenzen.

Tokio / Berlin (Agenturen/ND). Trotz des Dauereinsatzes im Kampf gegen die Kernschmelze hat sich die Lage am Atomwrack in Fukushima am Freitag zugespitzt. »Die Regierung tut das Äußerste, um die Situation unter Kontrolle zu bringen«, sagte Japans Ministerpräsident Naoto Kan gestern bei einer Pressekonferenz. Zuvor gab es neue Alarmmeldungen über extrem strahlendes Wasser in Fukushima Eins. Dort sind jetzt zwei Blöcke ohne jede Kühlung. Kan räumte ein, die Lage in Fukushima sei noch immer »sehr ernst«, die Situation im AKW »äußerst unvorhersehbar«.

Nach Untersuchungen durch die Umweltschutzorganisation Greenpeace muss die Katastrophe in Fukushima auf die höchste Stufe 7 der internationalen Bewertungsskala für nukleare Ereignisse (INES) eingeordnet werden. Aus der Atomanlage seien schon jetzt entsprechend große Mengen an Radioaktivität entwichen, stellte eine Studie des Physikers Helmut Hirsch für Greenpeace fest. Die Untersuchung basiert auf offiziellen Daten aus Frankreich und Österreich. Hirsch kommt zu dem Ergebnis, dass die Gesamtmenge von radioaktivem Jod-131 und Cäsium-137 die Einstufung in INES 7 erfordern. Die japanischen Behörden ordnen die Katastrophe der Stufe 5 zu.

Während beim Atomunfall von Tschernobyl ein Reaktor havarierte, steht in Fukushima eine Katastrophe in drei bis fünf Reaktoren bevor. Die Atomindustrie und die internationale Atomenergiebehörde IAEO hätten nach dem Atomunglück in Tschernobyl immer beteuert, dass ein so schwerer Störfall nicht in einem westlichen AKW geschehen kann, so Hirsch. »Die gefährliche Selbstzufriedenheit der Atomlobby und der IAEO über Jahrzehnte hinweg hat uns zur äußersten Katastrophe für die Menschen in Japan geführt«, erklärte der Kernphysiker und Atomexperte von Greenpeace Heinz Smital.

Nach Angaben Tokios ist die Situation an den Meilern 1, 2 und 3 in Fukushima besonders dramatisch. Bereits am Donnerstag sorgte stark strahlendes Wasser an Block 3 für Rückschläge. Am Freitag dann stoppte ebenfalls radioaktiv belastetes Wasser die Einsätze an den Reaktoren 1 und 2, wie die Nachrichtenagenturen Kyodo und Jiji Press berichteten. Als hohe Radioaktivität festgestellt wurde, mussten sich die Techniker zurückziehen. Am Donnerstag waren zwei Arbeiter in einem Keller neben Reaktor 3 verletzt worden, als ihnen verstrahltes Wasser in die Schuhe lief. Nach Angaben von Tepco hatte das Wasser eine Radioaktivität von 3,9 Millionen Becquerel pro Kubikzentimeter – 10 000 Mal so viel wie normal. Am Freitag waren diese Werte auch im Block 1 gemessen worden.

Die 10 000-fach erhöhte Strahlung des Wassers war ein Alarmzeichen: Vermutlich seien an Block 3 der Reaktorbehälter oder das Abklingbecken für abgebrannte Kernbrennstäbe beschädigt, berichtete Tepco. Die Atomaufsichtsbehörde NISA fügte an, das Wasser komme vermutlich vom Reaktorkern. Diese Berichte schürten neue Angst vor einer Kernschmelze.

Die NISA forderte Tepco zu wirksameren Schutz vor Radioaktivität auf. »Wir haben Probleme mit dem Strahlenschutz«, stellte Sprecher Hidehiko Nishiyama fest. An Reaktor 5 ist nach Angaben von Tepco das reguläre Kühlsystem inzwischen wieder repariert. Das Unglücks-AKW hat sechs Meiler und zahlreiche Abklingbecken. Japans Premier sieht trotz der jüngsten Entwicklung keine Notwendigkeit, die 20-Kilometer-Evakuierungszone um das AKW auszuweiten. Regierungssprecher Yukio Edano empfahl aber den Menschen im 30-Kilometer-Radius, sich in weiter entfernte Regionen zu begeben.

Angesichts des Atomunglücks in Japan werden die Lebensmittelkontrollen in Deutschland wie in der gesamten EU verstärkt. »Künftig dürfen Lebensmittel aus den betroffenen japanischen Regionen nur noch in Deutschland eingeführt werden, wenn sie in Japan streng kontrolliert und zertifiziert wurden«, teilte Bundesverbraucherschutzministerin Ilse Aigner am Freitag in Berlin mit. Erstmals wurde in der Luft in Deutschland radioaktives Jod aus Japan gemessen. Die Dosis sei unbedenklich, so das Bundesumweltministerium.

Auch politisch hat die Reaktorkatastrophe weitere Folgen für Deutschland. Nach Bekanntwerden von Äußerungen des Bundeswirtschaftsministers Rainer Brüderle (FDP) zum Atommoratorium der Bundesregierung bei einem Treffen des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) tritt dessen Hauptgeschäftsführer Werner Schnappauf zurück. »Ich übernehme die politische Verantwortung für die Folgen einer Indiskretion«, erklärte Schnappauf am Freitag in Berlin. Brüderle soll am 14. März – dem Tag, an dem Kanzlerin Angela Merkel das Moratorium verkündete – auf einer BDI-Tagung die vorübergehende Abschaltung älterer AKW mit dem Wahlkampf in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz begründet haben.

Inzwischen gibt es nicht nur aus der Opposition Kritik an Merkels Atompolitik: Sowohl CDU-Altkanzler Helmut Kohl als auch der Chef des Energieriesen RWE, Jürgen Großmann, warnten die Kanzlerin am Freitag vor einem »überhasteten Atomausstieg«.

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