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Der wiederentdeckte Entdecker
Karl Emil Franzos: »Der Pojaz« über einen Ghetojuden, der Schauspieler werden will
Hätte Karl Emil Franzos nichts anderes vollbracht, als Georg Büchners Werk vorm Vergessen zu bewahren, gebührte ihm allein für diese verlegerische Tat ein Platz in der Ruhmeshalle der Literatur. Franzos schrieb anlässlich der Einweihung eines Georg-Büchner-Denkmals in Zürich einen Aufsatz, durch den ein jüngerer Bruder Büchners auf ihn aufmerksam wurde und ihm die Betreuung des Nachlasses antrug. Seiner Arbeit ist zu danken, dass eine erste Werkausgabe des nahezu vergessenen Dichter des Vormärz erschien.
Neben seiner Arbeit als Verleger und Chefredakteur einer vielbeachteten Literaturzeitschrift war Franzos ein erfolgreicher Autor und Übersetzer, schrieb Erzählungen, Reportagen und Romane und sein opus magnum: »Der Pojaz«.
Geboren wurde er 1848 in einem Nest in Galizien, heute Ukraine, nicht weit von Czernowitz. Die Mutter stammte aus Odessa, sein Vater war ein k.u.k. Regimentsarzt aus München. »In meinem Elternhaus sprachen wir Kinder mit Vater und Mutter hochdeutsch, mit den Dienstboten kleinrussisch, mit den Gespielen, durchweg Christen, polnisch; mit jüdischen Kindern hatten wir – unsere Familie war die einzige gebildete Familie des Ortes – keinen Verkehr.«
Der Vater erzählte allabendlich, so müde er war, von deutschen Befreiungskriegen und jüdischen Märtyrern. So wuchsen in Franzos deutsche und jüdische Tradition tatsächlich zusammen. Die Sehnsucht nach dem Sich-heimisch-Fühlen mosaisch Gläubiger in deutscher Nation ist dann auch das bestimmende Thema des »Pojaz«.
Eine Ausgabe, die in meinem Bücherregal steht, erschien 1950 im Verlag Bruno Henschel & Sohn, befand sich im Bestand einer Bibliothek und wanderte von dort in ein Antiquariat, wo ich sie vor Jahren fand. Die Ausleihkarte verrät, dass der Roman in den fünfziger Jahren häufig gelesen wurde, dann in Vergessenheit geriet.
Mitte der sechziger Jahre gab es eine Nachauflage und um 1980 eine Ausgabe im Athenäum Verlag. Große Leserzahlen wird keine der Ausgaben gefunden haben. Weil er aber Aufmerksamkeit und Leser verdient, sei hier an den Roman erinnert. Zu seinen Fürsprechern zählen Walter Benjamin, Victor Klemperer, Peter Härtling und Petra Morsbach, die diesen Klassiker durchgesehen, mit einem klugen Nachwort und einem Umschlagbild von Matthias Körner versehen, im Verlag Sankt Michaelsbund herausgegeben hat.
Der Roman erzählt die Geschichte des Gettojuden Sender Glatteis, einem armen Luder, der allen Widerständen zum Trotz Deutsch lernt und sich in die Theaterliteratur vertieft, weil er Schauspieler werden will. Ein Traum, den er mit unendlicher Beharrlichkeit zu verwirklichen strebt. Das Unterfangen muss er geheim halten, liefe er doch sonst Gefahr, von den Eigenen verstoßen zu werden.
«Der Pojaz« ist ein anrührender Entwicklungs- und ein psychologischer Roman. Er lässt ein Sitten- und Gesellschaftsbild vor 1900 erstehen und reicht über seinen eigentlichen Gegenstand hinaus.
Er ist opulent, komisch, tragisch und poetisch. Für unsere Lesegewohnheiten kommt er manchmal etwas breit und umständlich daher und ist nicht aus einem Guss. Man merkt dem Text an, dass er über einen langen Zeitraum von mehr zwanzig Jahren entstanden ist, dass Franzos ihn mehrmals beiseite gelegt hat, um ihn bei Gelegenheit aus der Schublade zu nehmen und weiter daran zu arbeiten. Vielleicht auch wegen dieser Brüchigkeit ist er für uns, die wir an geschniegelte und gebürstete Texte gewöhnt sind, von einigem Reiz.
Franzos starb 1904 in Berlin und ist auf dem jüdischen Friedhof Weißensee begraben. »Der Pojaz« erschien posthum.
Karl Emil Franzos: Der Pojatz. Eine Geschichte aus dem Osten. Verlag Sankt Michaelsbund. 510 S., geb., 26,90 €.
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