Das Vater-Mutter-Kind-Spiel

Eveline Moede erzählt von Nöten – überbordend kunstvoll

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 4 Min.

Als er da war, warfen sie ihre Häute ab, all die eitlen Verstecke, die sie vor ihren Kleinmut und Lügen geschützt hatten. Er riss sie ihnen vom Leib, aber das wussten sie erst später. Noch glaubten sie an ihre Freiheit; sie hatten dieses Kind gewollt ...« – Von der ersten Seite an ist klar, dass es der Autorin nicht nur um das Was, sondern vor allem auch um das Wie des Erzählens geht. Sie stellt eine Geschichte vor sich hin über Geschehnisse, die schon vergangen sind und die nun beinahe zu einer Mär werden, zu einer schrecklichen, aber durch hochgradige sprachliche Verarbeitung auch wieder schönen. Eveline Moede fand einen poetischen Weg in die Tiefe, der, wie sie als Psychotherapeutin wohl weiß, für die Schmerzen die Linderung gleich mit bereitstellen kann.

Wäre ihr das Beschriebene selbst geschehen, sie wäre erzählerisch anders damit umgegangen. Oder gerade nicht? Hat sie, gerade weil sie betroffen war, die literarische Ausformung gebraucht? Auf jeden Fall hat Lektüre in mindestens ebenso starkem Maße wie die Realität auf das Entstehen dieses Romans hingewirkt. »Alles« heißt er – genauso wie die Erzählung von Ingeborg Bachmann, die auch im Tod eines Jungen gipfelt. Ein Unfall, den der Vater sich als Schuld anrechnet, weil er sein Kind aus seiner Liebe hat fallen lassen. In ihren Roman hat Eveline Moede Bachmann-Zitate eingearbeitet, die, kursiv gedruckt, eine organische Verbindung mit dem eingehen, was sie selber formuliert hat.

Wahrscheinlich ist es eine fremde Geschichte, eine, von der sie als Familien-Sozialtherapeutin erfahren haben mag. Etwas, was gar nicht so selten vorkommt: Ein spätes Kind gibt zwei Menschen die Hoffnung, von allen früheren Nöten erlöst zu werden. Frieder und Lara wollen nun alles gut und richtig machen, sich in Aufmerksamkeit an ihren Sohn Rufus verschwenden, der natürlich ein ganz besonderes Kind ist. So aufzuwachsen – erwünscht, beachtet, geliebt – ist schön. Solche Kinder haben es besser als es ihre Eltern je hatten, an ihnen wird etwas gut gemacht. Aber das hat eine Kehrseite. »Alles« an Hoffnungen ist für ein Kind einfach zu schwer.

Der schwebende Ton war am Anfang wunderbar, irgendwann hätte ich mir einen Stilwechsel gewünscht. Denn es ist doch gerade die Nüchternheit, die Frieder und Lara fehlt und die nun ganz dem Leser anheimgegeben ist: zu durchdenken, zu erklären. Es ist ein so lebenswichtiges Thema, noch gar nicht oft in der Literatur gestaltet, so dass man immer wieder zur Frage kommt: Was haben die beiden in diesem Moment denn falsch gemacht? Hätten sie das Kind gar nicht zur Waldorfschule geben dürfen (großartig bissig Eveline Moedes Beschreibung)? Warum hat es nicht in die Montessori-Schule gepasst und dann auch nicht in die staatliche Schule? Lag es vielleicht doch ganz einfach an den konkreten Lehrkräften dort?

Pech oder Fehler? Wurde dem Kind von Anfang an zu viel abgenommen? Es begann ja schon mit dem Kaiserschnitt ... Ist die Aufmerksamkeit, die man Kindern heute schenkt, übertrieben? Viele stellen sich solche Fragen. Auch wenn sie keine Kinder oder Enkel haben, sehen sie doch, welcher Standard sich da inzwischen herausgebildet hat. Aber am Schluss hat dann eben doch die Aufmerksamkeit gefehlt. Zufällig oder nicht?

Und es geschieht ganz unmerklich: das Umschlagen vom Übermaß in den Mangel. Irgendwann macht das Vater-Mutter-Kind-Spiel wohl nicht mehr so richtig Spaß ...

Auf die Weise, wie Eveline Moede ganz aus der Sicht ihrer Gestalten erzählt, ist es schwer, diese Begrenztheit zu überwinden. Ich sehe sie lächeln: Haben Sie etwa einen psychologischen Ratgeber gewollt? Das ist ein Roman! Und ich füge hinzu: Das ist ein Roman, der viel anspruchsvoller ist als andere und der immer wieder erstaunt durch die Sprachkraft der Autorin. Diese Sprachkraft ist da am eindrucksvollsten, wo etwas auszudrücken ist, das auf andere Weise schwer in Worte zu fassen wäre, weil sich »auf existenzielle Fragen keine Antworten googeln lassen«, wie es an einer Stelle heißt. Sprache kann das Sperrige hervorheben, aber sie kann auch formen, glätten, psychologisieren, so dass Schwieriges handhabbar wird. Ja doch, das braucht man zum Leben.

Es gibt weniger gute Bücher, bei denen merke ich gar nichts kritisch an, weil ich den Eindruck habe: Die Autorin/ der Autor haben gegeben, was sie konnten. Hier aber sehe ich ein größeres Talent. Und in dem Roman steckt so viel: Zum Beispiel auch, dass Frieder und Lara aus dem Osten kommen, was ihren Vergangenheiten eine Spezifik gibt und ihren Zukunftshoffnungen auch. Insgeheim meinen sie, einen Anspruch zu haben auf etwas, das ihnen das Leben früher verweigert hatte. »Alles« wollten sie nun: Ruhe, Frieden und Freiheit. War der Anspruch zu groß? Wie hätten sie voraussehen sollen, dass der Zufall ihnen einen Schlag versetzt?

Eveline Moede: Alles. Roman. Edition Cornelius. 126 S., geb., 12,50 €.

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