Logbuch einer verweigerten Lektüre

Endlich in gedruckter Form: »Zettel's Traum« von Arno Schmidt

  • Uwe Stolzmann
  • Lesedauer: 5 Min.

Ab in die Wärme!, eine Freundin, Buchhändlerin F., ist via Zürich eben Richtung Thailand entflogen. Und du, du bist an deinem Schreibtisch geblieben, in der Schneewüste, Appenzell, tiefste Schweiz, allein mit diesem Findling von Roman. Es gibt keine Ausrede mehr, keinen Weg um den Findling herum, um das wohl schwerste, größte Buch der deutschen Literaturgeschichte: etliche Kilogramm, 1500 Seiten Großformat, dreispaltig beschrieben. Lektürezeit, geschätzt: ein Jahr. Vier Jahrzehnte lang existierte »Zettel's Traum«, das maßlose Werk des Heide-Eremiten Arno Schmidt (1914-1979), nur als Provisorium, ein Typoskript, das sich dem Bleisatz verweigerte.

Gestalterschweiß plus Computertechnik haben es nun in ein richtiges, ein gesetztes Buch verwandelt.

Arno Schmidt? Hat sich deiner Leser-Biografie eingeprägt, damals, im Ost-Berlin der Achtziger – die frechen, zauberhaft egomanischen Prosastücke aus Schmidts Frühzeit. Von »Zettel's Traum«, in der DDR nicht verlegt, raunten Experten. Deine erste Reise in den Westen führte Anfang neunzig zu Schmidt, ins Heidedorf Bargfeld, in diese Kate mit Spitzdach, Mansarde. Du schautest in einen Zettelkasten von »Zettel's Traum«. Ehrfurcht. Das Gefühl, vor einer einschüchternden Stadt zu stehen.

Nun hast du das Buch, nun kommen die Fragen: Ist ein Leser dem »prägenden« Autor gegenüber tributpflichtig, musst du alles lesen? Und muss dir dieser Traum nahegehen? Ein fiktiver Spaziergang über ein Stück Brache bei Bargfeld ... (Das Schauerfeld, 10 x 500 Meter.) Die Konversation zwischen Gastgeber Daniel »Dän« Pagenstecher (in seiner Besserwisserei: typisch Schmidt) und einem Übersetzerpaar mit reizendem Töchterlein, Franziska ... Der mal gelehrte, mal vulgäre Austausch über Abgründe in Vita und Werk des Edgar (Allan) Poe ... Das Techtelmechtel zwischen dem angejahrten Dän und jenem wilden Fräulein Fränzi ... Dazu die wüste, faunische Typographie: Herr Schmidt (n großer ein= Samer) hat jeden Satz mit sogenannten Etyms gespickt, mit Belegen einer Passion, die aus fast jedem Wort ein Schlachtfeld unterdrückter Triebe macht.

Ein junger Schweizer kam dir kürzlich mit der Idee, angestaubte Prosaperlen in »heutiges Deutsch« zu übersetzen. Er dachte an Max Frisch, den kannte er vom Hörensagen. Schmidt? Kein Begriff. Du überlegst: Wie ZT wohl ins Hier und Jetzt zu übertragen wäre? Vor der Transformation stünde indes die Lektüre ... Du könntest dich einschließen mit dem Buch, Hingabe verlangt Askese. Gleich machst du ernst, du liest: Nebel schelmenzünftich. 1 erster DianenSchlag; (LerchenPrikkel). Gestier von Jung-Stieren. Schon bist du in Schmidts Reich, vergiss Appenzell!, du magst die stillen Wege über stilles Land, nur Grillen, Frösche, vielleicht bellt ein Hund; lässt sich doch gut an, die Lektüre.

PLING!, das Handy, eine SMS vom Ende der Welt. Die Buchhändlerin, aus Thailand: »lieber u., tropisch ist's; lähmt einen beinahe. überwältigend üppig die vegetation. wunderbares spiel von licht und schatten. und bei dir? herzlichst, f.« Bei dir? Liegen Dreitausender vor dem Fenster, Felskegel, verharscht, und auf dem Tisch liegt dieser Felsblock von Buch: Und Dizzyköpfigstes schüttelt den Morgen aus. Hmm!? PLING: »mit dem minibus unterwegs ins hinterland der thai; aus platzgründen 14 1/2 kilo kind – schweissnass und schlafschwer – im arm.« Du siehst Schmidts Schauerfeld, Moorflächen, rachitische Birken, dahinter Palmen im Sand und im Sand eine verlockende Frau. »nachmittags am strand; tattoos und fleischwülste. paare, die knutschend und klammernd ihr glück zur schau stellen.« Speckbäuchler, brr!, tippst du nach Thailand. Dazu eine Sentenz jenes Herrn Schmidt, den sie kennen wird oder auch nicht. Und wo Menschen in Scharen auftraten, immer den Rücken gedreht. – PLING: »arno schmidt sagt mir nur vom namen her was; ein autor und kein formel-1-fahrer. ein sehr, sehr kauziger kunde hat von ihm geschwärmt. neugierig blickend, die buchändlerin in mir.«

Nach ein paar »Zettel«-Sätzen stockt die Lektüre. Der Text zieht sich, es dauert, bis die Romanze Dän-Fränzi Form annimmt. »Jetz! –« (versetzDe der GlocknRock nebm Mir: – (präziser die Bluse von schlankstim Ausschnitt, satinisch ainzuschau'n. Der RotMund voller SchneideZähne (aber unlächlnd). – Du tagträumst von Fränzi, von F., der flüchtigen Freundin, und da ist sie, PLING!, sie entführt dich aus Schweizer und Schmidtscher Wüstenei in einen nie gesehenen Landstrich zwischen Khao Lak und Krabi, zu Ananasfeldern, dampfenden Wäldern. »dann krabi – laut, dreckig, stinkig. in der ferne die rufe des muezzins zum nachmittagsgebet, etwas irritierend. ein sonnengruss, f.« Ach so, Schmidt!, ihr fällt noch was ein: »der kunde im buchladen hatte einen tick; selbst bei sommerhitze trug er regenmantel und hut, und er führte selbstgespräche. was hat es denn mit schmidt auf sich?« Du weiß es nicht, du willst kein kauziger Kunde sein. Vage denkst du an einen Weg, Schmidts Monster-Traum ins Hier und Jetzt zu transportieren: per SMS, über Thailand, in Portionen à 200 Zeichen.

Und dann machst du Schluss mit ZT. Du magst nicht Monate auf einen einzigen Roman verwenden. PLING!, ein letztes Mal: »du solltest den sternenhimmel hier sehen, lieber, ferner u.! kein licht weit und breit; die grillen zirpen, die frösche quaken, irgendwo bellt ein hund.« Nanu? Schmidtland, Thailand, Appenzellerland finden plötzlich zueinander. Schauerfeld ist überall.

Arno Schmidt: Zettel's Traum. Suhrkamp Verlag. Studienausgabe in vier Bänden., 1536 S., brosch. im Schuber, 198 €.

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