Werbung

Ein Menschenleben im Discount kostet 5000 Dollar

Die Bundesrepublik kauft sich billig frei von den Folgen des Krieges am Hindukusch

  • René Heilig
  • Lesedauer: 4 Min.
Der Einsatz am Hindukusch wird nicht nur in Deutschland immer unpopulärer. Kanada und die Niederlande ziehen ihre Truppen ab, andere Staaten erwägen Gleiches. Auch in den USA sinkt die Zustimmung zur Teilnahme an dem Krieg.

Seit dem Beginn des Überfalls auf Afghanistan vor neun Jahren sind 2002 ausländische Soldaten getötet worden. Das ist auf der unabhängigen Website icasualties.org zu lesen. 1226 US-Soldaten und 331 britische stehen in der Statistik obenan.

Man kann es rechnen, wie man will. Immer steht Tod unterm Strich. Allein in diesem Jahr wurden bislang 434 Einsatzkräfte der internationalen Schutztruppe ISAF getötet. Im bislang blutigsten Jahr 2009 waren es 521. Insgesamt kostete der Afghanistan-Krieg bislang 43 deutsche Soldaten das Leben. Soweit die Verlustlisten der Militärs.

Die Liste der getöteten Afghanen – egal ob Aufständische oder unbeteiligte Zivilisten – lässt sich nicht so akribisch führen. Laut einem UN-Bericht sind seit Jahresbeginn mehr als 1271 Zivilisten getötet worden, ein Viertel mehr als im ersten Halbjahr 2009. Besonders dramatisch stieg die Anzahl der getöteten Kinder. Zudem wurden 1997 Zivilisten durch Anschläge sowie Kämpfe zwischen Rebellen und afghanischen sowie internationalen Truppen verletzt.

Wenn die bekannten Zahlen getöteter und verwundeter afghanischer Zivilisten zusammengerechnet werden, steigt die gesamte Opferzahl damit im ersten Halbjahr um 31 Prozent. Besonders Kinder und Frauen werden zu Leidtragenden der Metzeleien.

Auch die Bundeswehr tötet in Afghanistan Unschuldige, darunter Frauen und Kinder. Bislang schlich man sich immer mit Abfindungen, die keine Anerkennung von Schuld sind, aus der Verantwortung. Und so handhabt man das auch gegenüber den Opfern des Bombenangriffs, der Anfang September 2009 bei Kundus vom deutschen Oberst Georg Klein angeordnet worden ist. Die Bundeswehr zahlt betroffenen Familien 430 000 Dollar als »freiwillige Unterstützungsleistung«. Das Ministerium lobt sich – auch mit zahlreichen Fotos – über alle Maßen, wie »unbürokratisch« man die je 5000 Dollar pro Familie übergibt.

Der Kommandeur des Regionalen Wiederaufbauteams Kundus, Oberst Reinhardt Zudrop, und sein Stab bemühten sich in der vergangenen Woche höchstselbst zu einigen der Empfänger. Und natürlich finden sich dankbare Empfänger, die man für die im fernen Berlin erstellte ministerielle Website zitieren kann. Abdullah Qahar: »Das Geld hilft uns, ich werde mich um die Kinder kümmern, um ihnen eine bessere Ausbildung und Schulbildung zu ermöglichen.« Und Karim Gul will sich von dem Geld ein Auto kaufen, um damit Geld zu verdienen und so seine Familie besser ernähren zu können.

Der aktuelle Wiedergutmachungspreis beträgt pro Familie 5000 Dollar, rund 4000 Euro. Wenn es dabei bleibt, kommt die Bundesrepublik Deutschland diesmal billig davon. Denn der Wert eines Menschen scheint arg zu schwanken. Für eine an einem Checkpoint erschossene Frau überwies der deutsche Steuerzahler schon mal 20 000 Dollar, um die Familie eines getöteten afghanischen Jungen zu trösten, bot man 33 000 Dollar.

Diesmal gut verhandelt? Vor allem unfair! Denn hätte der Bremer Anwalt Karim Popal nicht so energisch für seine betroffenen Landsleute gestritten, wäre Deutschland wohl noch billiger davon gekommen. Popal forderte 33 000 Dollar für jeden, den Oberst Klein in jener Nacht des 4. September 2009 durch US-Bomben am Kundus-Fluss umbringen ließ. Er wollte Projekte gründen, die den Familien auch das wirtschaftliche Überleben gesichert hätten. Doch der Anwalt, so sagt er selbst, »war naiv«. Er sei »ohne Strategie in diesen Fall gegangen«.

Und damit in die Falle der herrschenden deutschen Politik und der juristischen Ministeriumsbürokratie. Sie ließen Zeit ins Land gehen, warteten ab, dass der sogenannte Kundus-Untersuchungsausschuss des Bundestages in Leere lief. Dann diskreditierte man den Opferanwalt und seine Helfer. Schließlich bootete das Guttenberg-Ministerium Popal aus.

Ausgestanden ist der »Fall Kundus« deshalb aber noch lange nicht. Karim Popal kündigte an, Schadenersatzklage vor deutschen Gerichten zu erheben. Der Erfolg hängt nicht nur von den zuständigen Richtern, sondern auch davon ab, wie lange das Bombardement am Kundus-Fluss und seine vermutlich über 140 Opfer noch im öffentlichen Bewusstsein der deutschen Bevölkerung bleiben.

Nicht nur Afghanen beklagen zunehmend die Opfer des Krieges. In den Ländern, die ISAF-Soldaten stellen, wächst die Anzahl der Kriegerwitwen und -waisen. Familien gehen zu Bruch, weil heimkehrende Soldaten traumatisiert und einem normalen Leben entwöhnt sind. Posttraumatische Belastungsstörungen lautet der Fachbegriff. Auch die Selbstmordrate unter den westlichen Kriegsteilnehmern steigt erschreckend an.

Der Krieg geht weiter. Der Oberbefehlshaber der US- und der ISAF-Streitkräfte, General David Petraeus, erklärte am Wochenende, er werde »ganz sicher« nicht davor zurückschrecken, von US-Präsident Obama eine Verschiebung des Abzugstermins zu fordern.

App »nd.Digital«

In der neuen App »nd.Digital« lesen Sie alle Ausgaben des »nd« ganz bequem online und offline. Die App ist frei von Werbung und ohne Tracking. Sie ist verfügbar für iOS (zum Download im Apple-Store), Android (zum Download im Google Play Store) und als Web-Version im Browser (zur Web-Version). Weitere Hinweise und FAQs auf dasnd.de/digital.

- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.