Linke ostdeutsche Opposition
Der telegraph liefert Texte für die linke Theorie und Praxis, ohne seine Wurzeln zu verleugnen
Wenn sich eine Publikation auch 21 Jahre nach dem Umbruch von 1989 selbstbewusst »ostdeutsche Zeitschrift« nennt, werden manche Ostalgie erwarten. Doch in der aktuellen Ausgabe des telegraph wird die alte DDR nicht zurückgewünscht. Aber auch die herrschenden Verhältnisse in Deutschland und der Welt werden einer scharfen Kritik und Analyse unterzogen. Das ist ein Markenzeichen des von DDR-Oppositionellen herausgegebenen Magazins seit seiner Gründung in der Endphase der DDR. Anders als viele ihrer ehemaligen Mitstreiter haben die Herausgeber des telegraph auch heute keinen Frieden mit den Verhältnissen gemacht. Deswegen haben sie auch junge Mitarbeiter gefunden, wie den Rapper Jenz Steiner aus dem Prenzlauer Berg. Er war beim Mauerfall 13 Jahre alt und beschreibt in seinem Beitrag, wie er in den Wendejahren bei antifaschistischen Demonstrationen und in besetzten Häusern politisiert wurde. Er spricht nicht nur für sich, wenn er rückblickend über seine Generation schreibt: »Der wilde Aktionismus der Pubertät ist bei fast allen verpufft. Ihre linke, humanistische und freidenkerische Grundhaltung haben sie sich hingegen bewahrt.«
Der Stadtsoziologe Andrej Holm beschreibt die Entwicklung des Prenzlauer Berg vom kulturanarchistischen Utopia der frühen Wendejahre zur Hochburg der Bionade-Bourgeoisie aus Sicht der Bewohner mit geringem Einkommen. Nicht alle starben aus Gram über ihre aus ökonomischen Zwängen verlassenen Wohnungen, wie der Fotograf Peter Woelck. Aber an den Stadtrand wurden viele verdrängt. »All die Aufwertungsprognosen der Vergangenheit haben sich erfüllt – aber Recht haben ist keine Kategorie des politischen Erfolges. Leider«, so Holms bitteres Resümee. Während Helmut Höge an die ostdeutsche Betriebsräteinitiative erinnert, die Anfang der 90er Jahre die Abwicklung wichtiger Industriebetriebe in der DDR nicht stoppen konnte, beschreibt Willy Hajek aktuelle Entwicklungen an der Gewerkschaftsbasis in und außerhalb des DGB.
Neben Texten, die sich mit der Entwicklung im Beitrittsgebiet befassen, schärft der telegraph auch sein theoretisches Profil, indem er durchaus streitbaren Thesen Raum gibt. So setzt sich die Philosophin Tove Soiland kritisch mit der »Entwicklung der Frauenbewegung zum Gender-Management« auseinander. Soiland verfolgt die Anfänge der Gender-Debatte zurück zu den Culture-Studies, die von britischen Marxisten in den 90er Jahren als Ergänzung zum orthodoxen Marxismus, der Feminismus und Kultur als Nebenwidersprüche wahrnahm, entwickelt wurden. Sie zeigt auf, wie im Laufe der Jahre beim Gender-Diskurs die marxistischen Wurzeln gekappt wurden. Damit sei das Gender-Management für den neoliberalen Diskurs anschlussfähig geworden, so Soiland. Zwei weitere theoretische Highlights der telegraph-Ausgabe sind die Interviews mit dem polnischen Soziologen Zygmunt Baumann und dem französischen Historiker Enzo Traverso. Baumann berichtet über sein Engagement als Kommunist in der Volksrepublik Polen, die er wegen der antisemitischen Kampagne im Jahr 1968 verlassen hat. Er bereut es auch nachträglich nicht, den Traum einer Gesellschaft ohne Armut und Unterdrückung geträumt zu haben. Traverso reflektiert im Gespräch den Wandel des Antifaschismus. Der telegraph liefert so Material für die linke Theorie und Praxis, ohne seine Wurzeln aus der linken ostdeutschen DDR-Opposition zu verleugnen.
telegraph 120/121, »Krisen und Jubiläen«, 160 Seiten, 6 Euro, www.telegraph.ostbuero.de
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