Hohe Schwelle

Die NVA und die geheimen Einsatz-Pläne

  • Jürgen Hofmann
  • Lesedauer: 3 Min.

Im offiziellen Selbstverständnis war sie eine Armee des Volkes, die Nationale Volksarmee. Darf und kann eine solche Armee in innenpolitischen Konfliktsituationen eingesetzt werden? Die praktische Probe aufs Exempel in den Wochen und Monaten des Herbstes 1989 hat dies verneint. Dennoch war in den geheimen Planungen der Einsatz gegen »konterrevolutionäre Kräfte« vorgesehen.

Der Militärhistoriker Günther Glaser geht dieser Frage für den Zeitraum von 1949 bis 1966 nach und präsentiert elf Dokumente. In einer diesen vorangestellten Studie schlägt er einen weiten historischen Bogen – zurück bis zu den nordamerikanischen Unabhängigkeitskriegen und der Großen Französischen Revolution –, um die Aufgabenteilung zwischen Polizei nach Innen und Militär nach Außen als wichtige historische Errungenschaft zu verdeutlichen. Das Aufkommen von Massenarmeen nötigte dazu, den Einsatz von Streitkräften im Innern möglichst zu vermeiden. Dennoch wurde er in vielen Situationen weiterhin praktiziert, wie die Revolutionen von 1848/49 und 1918/19 auf tragische Weise belegen.

In den folgenden Abschnitten untersucht Glaser, welche Aufgabe den militärischen Kräften der DDR im Kampf gegen innere Feinde zugedacht war. Der Politbürobeschluss vom November 1956 ordnete für die Unterdrückung »konterrevolutionärer« Aktionen in einer zweiten Stufe den Armeeeinsatz an. Der Befehl des Ministers für Nationale Verteidigung vom Juli 1962 besagte, dass die NVA zur »Aufrechterhaltung der Ordnung und Sicherheit« bereit zu sein habe, »kurzfristig jede beliebige Aufgabe im Innern der DDR zu erfüllen«. Zugleich hat die politische und militärische Führung die »Schwelle zum Gebrauch der Schusswaffen« hoch gelegt. Nur indirekt rekonstruieren konnte Glaser den Plan des Einsatzes der bewaffneten Kräfte der DDR und der Gruppe Sowjetischer Streitkräfte in Deutschland (GSSD) zur Sicherung der inneren Ordnung in der DDR, dem laut Protokoll des Nationalen Verteidigungsrates vom Januar 1966 zugestimmt wurde, der aber diesem Protokoll nicht mehr beiliegt (Dokument 9). Diese Planungen waren streng geheim und nur einem sehr kleinen Personenkreis bekannt. Mannschaften und Offiziere wären von Einsatzbefehlen im Innern, deren Szenarien in der Ausbildung überhaupt nicht vorkamen, überrascht worden. Außerdem, so Glaser, stellte die NVA »kein homogenes Ganzes dar«. Das Auseinanderdriften von System- und Lebenswelt machte ihre Einsatzfähigkeit nach innen von vornherein fraglich.

Dieser Band illustriert stalinistisch geprägte Denkweisen und Strukturen beim Umgang mit Macht und Machterhalt, die durch Kalten Krieg und Blockkonfrontation zusätzlich genährt worden sind. Es ist bezeichnend, dass die Mitwirkung der obersten Volksvertretungen in Verteidigungs- und innenpolitischen Konfliktfällen überhaupt nicht vorgesehen war. Während militärische Bedrohungsszenarien angenommen und durchgespielt wurden, gab es für die innergesellschaftliche Krise keine tragfähigen Lösungsansätze.

Günther Glaser: Armee gegen das Volk? Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main. 152 S., geb., 29,90 €.

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