Zwischen Liebe und Vernunft

Mori Ógai: »Das Ballettmädchen« – ein Japaner schrieb eine »Berliner Novelle«

  • Roland Müller
  • Lesedauer: 3 Min.

Es ist schon erstaunlich und grenzt manchmal fast an ein Wunder, wie es die Literatur vermag, verschiedene Völker, ja ganze Erdteile wie hier Asien und Europa durch die Darstellung menschlicher Schicksale und Charaktere einander näher zu bringen und vertraut zu machen. Und selbst die Zeit, in der sie geschrieben wurde, ob in der Vergangenheit oder heute, spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle.

Die Novelle »Das Ballettmädchen«, das Erstlingswerk des Japaners Mori Ógai, mit seinem wahren Namen Rintaró Mori, erschien bereits 1890. In verschiedenen Übersetzungen wurde es mehrfach aufgelegt, 1989 sogar verfilmt und 1994 in einer vor- züglichen deutschen Übersetzung von Jürgen Berndt neu herausgebracht. Die hier vorliegende Publikation fußt auf dieser Ausgabe und wurde Anfang 2010 von Ursula Berndt in einer feinen Edition mit einem umfangreichen Nachwort, Quellenangaben, Tagebuchnotizen des Autors und seltenen Fotogra-fien aus dem Berlin anno 1900 wieder neu aufgelegt.

Mori Ógai, geboren 1862 in einem kleinen westjapanischen Städtchen und streng im Sinne des Konfuzianismus erzogen, studierte Medizin in Japan und Deutschland. Zu den zentralen Kategorien der konfuzianischen Lehre gehört das Prinzip der Loyalität gegenüber den Mächtigen auf verschiedenen Ebenen. Dieses Prinzip hat sowohl großen Einfluß auf die Struktur der Handlung in seiner Novelle gehabt wie auch in seiner eigenen Entwicklung als Autor, Wissenschaftler und später Staatsmann. So ist »Das Ballettmädchen« sowohl die Geschichte einer jungen ergreifenden und tragisch endenden Liebe im wilhelminischen Berlin, aber auch, wie Herausgeberin Ursula Berndt hervorhebt, »die Geschichte einer gescheiterten Emanzipation«.

Der Ich-Erzähler Ógai, auf den die Geschichte zugeschnitten ist – damals die erste Ich-Erzählung in der japanischen Literatur! – beugt sich dieser Macht, jedoch nicht willenlos und auch mit innerem Verlust. Im Prinzip ist es die Gretchentragödie noch einmal, und zwar in japanischer Version: Ein junger Mann, begabt und voller Pläne für eine Karriere, doch ein Fremder in der brodelnden Metropole der Kaiserzeit, trifft auf ein armes, beinah mittelloses, aber sehr schönes Mädchen, verliebt sich in sie und findet so einen Halt. Als Elis ein Kind von ihm erwartet, flieht er vor der Verantwortung und rettet sich in den Staatsdienst für höhere Aufgaben in seinem Heimatland. Und bevor das Kind geboren wird, verliert das Mädchen den Verstand.

Ógai hat das sehr schön und zart aufgeschrieben, mit fernöstlicher Zurückhaltung und an einigen Stellen in der Sprache der deutschen Märchen. Das macht seine Liebesgeschichte so anrührend und fast zeitlos; ein Klassiker eben. Merkwürdig ist nur, dass man in der Literatur dieser Zeit erotische Dinge niemals beschrieben, sondern nur umschrieben hat. Übrigens hat der Autor auch viele der deutschen Klassiker ins Japanische übersetzt, und dazu gehört auch – wen wundert’s – Goethes »Faust«.

Mori Ógai: Das Ballettmädchen. Eine Berliner Novelle. Japan Edition im be.bra Verlag. 112 S., geb., 16,95 €.

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