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Freiwillig »Lange Kerls« in Potsdam
Seit 20 Jahren gibt es den Verein und seine Militärfolklore / Das Spektakel ist nicht unumstritten
Das Gardemaß von 1,88 Meter ist heute wie vor Jahrhunderten Bedingung für einen »Langen Kerl«. Vor fast 300 Jahren unter König Friedrich Wilhelm I. wurden sie in die Truppe gezwungen. Seit 20 Jahren machen sie freiwillig in einem Verein mit. Sie fallen auf. Große Männer in historischen Uniformen.
Bei zackigen Befehlen marschiert die Truppe in Reih und Glied. Ein wesentlich kleinerer Trommler gibt den Rhythmus vor. Einstudierte Bewegungen, das Gewehr abgesetzt und geschultert. Die Männer folgen genau den Anweisungen des Spießes. Wer aus der Reihe tanzt, riskiert einen derben Anranzer.
»Wir müssen üben, damit es bei den Auftritten klappt«, sagt Johann-Sebastian Strauss, Geschäftsführer der Potsdamer Riesengarde »Lange Kerls«. Die knapp 60 Vereinsmitglieder – zwei Drittel kommen aus Potsdam und Brandenburg, der Rest aus Berlin – lassen ein Kapitel preußischer Geschichte auferstehen. Dem Garderegiment von Friedrich Wilhelm I. gehörten 60 Offiziere, 165 Unteroffiziere, 53 Trommler, 15 Feldscher und 2160 Musketiere an. Keiner maß weniger als sechs Fuß. Das entspricht etwa 1,88 Meter. Der König erwartete von der Garde eine bessere Handhabung der langläufigen Vorderladergewehre und eine bessere Zielgenauigkeit. Die Truppe kämpfte jedoch nur ein einziges Mal: mit Russland gegen Schweden. Friedrich II. löste sie 1740 auf.
»Die Kerls brauchen eine gute Kondition«, erzählt Strauss. Die Ausrüstung ist schwer. Dazu kommt militärischer Drill nach einem Reglement von 1726. Alle Handgriffe, jeder Schritt und jede Bewegung sind vorgeschrieben. »Die Befehle werden befolgt. Diskutiert wird nicht«, stellt Strauss nüchtern fest. Die heutigen »Langen Kerls« sehen sich nicht als schlagende Verbindung oder Militariagruppe. »Wir interessieren uns für preußische Geschichte und für diese Truppe«, sagt Strauss. Man habe Spaß daran, in historische Uniformen und damit zeitweise in eine andere Haut zu schlüpfen.
Weltweit treten die Vereinsmitglieder bei Paraden und Festen auf. Zu sehen waren sie in New York, in Brasilien, Japan, Italien und Hongkong. Eher rar sind die Kerle in der Heimatstadt Potsdam: Anfang der 1990er Jahre konnten sie nur unter Polizeischutz auftreten, da Antimilitarismuskampagnen massiv protestierten. Heute proben sie jeden ersten Sonnabend im Monat öffentlich im Krongut Bornstedt. Die Männer kommen kaum zum Üben. Immer wieder müssen Fragen von Schaulustigen beantwortet werden.
Zu den nachgeschneiderten Uniformen gehören Weste und Hose in roter Farbe, weiße Gamasche und Rock sind blau. Unter dem weißen Hemdlätzchen verbirgt sich ein Leinenunterhemd. »Früher wurden die Schöße zu einer Unterhose geknüpft«, erzählt einer dem staunenden Publikum. »Heute sind die Hemden kürzer«, beugt er schmunzelnd weiteren Fragen vor.
Immer dabei ist auch König Friedrich Wilhelm I., der begutachtet, was seine Soldaten so treiben. Mit Perücke schreitet er huldvoll aus. Im wahren Leben ist er der 41-jährige Mike Sprenger aus Potsdam. Ganz majestätisch verabschiedet er sich von Gesprächspartnerinnen mit einem »Madame« und einer angedeuteten Verbeugung. Die Geste wird gekrönt von einem Handkuss.
Der fast 18-jährige Alexander Böttcher will auch mal zu den »Langen Kerls« gehören. Die Größe hat er mit 1,97 Meter schon. Noch marschiert er aber in Jogginghose, Sneakers und mit Holzgewehr mit. Ein richtiges Gewehr gibt es erst mit 18 Jahren. Erst dann kann Alexander Böttcher den Schein für Schwarzpulverwaffen erwerben. Sein Vater, der schon lange dabei sei, habe ihn angesteckt, sagt er.
Auch der kleine Bruder Sebastian soll die Familientradition fortsetzen. Der Zwölfjährige will sich als Flötenspieler in der Truppe »hochdienen«. »Signale zum Sammeln kann ich schon«, erzählt er.
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