Fatale Tendenz zum Sparen
Kreuzberger Jugendeinrichtungen sollen demnächst in freie Trägerschaft überführt werden
»Die sollen mal sehen, was passiert, wenn wir auf der Straße stehen«, ruft ein Jugendlicher verärgert. Gemeinsam mit den Sozialpädagoginnen und anderen Gruppen von Nutzern diskutiert eine Gruppe von Jugendlichen über die Zukunft der »Naunynritze« in der Kreuzberger Naunynstraße, mitten in »SO36«. Seit über 20 Jahren bietet das Haus Jugendlichen und Eltern einen offenen Treffpunkt, aber auch zahlreiche Freizeit-, Kultur- und Weiterbildungsangebote für den Kiez.
Seit dem Beginn der Sommerferien fürchten die kommunalen Beschäftigten und die Nutzer des Hauses jetzt um ihre Zukunft. Denn der Haushaltsplan des Bezirks sieht vor, alle Kinder- und Jugendfreizeiteinrichtungen mit insgesamt 55 Mitarbeitern in freie Trägerschaft zu überführen. »Der Bezirk hat erhebliche Defizite, und unsere Abteilung muss zwei Millionen Euro einsparen«, erklärt Jugendamtsleiter Thomas Harkenthal die geplante Umstrukturierung. Der Jugendhilfeausschuss und die BVV müssen diesem Vorschlag aber noch zustimmen.
Erzieher und Pädagogen sehen mit der Umstrukturierung die Kontinuität der Jugendarbeit gefährdet. Stellen würden dann voraussichtlich nur befristet vergeben, jedes Projekt müsse neu beantragt werden, Konditionen, auf die sich die bisherigen Mitarbeiter nicht einlassen werden.
»Wenn es in Kreuzberg kocht, ist die Naunynritze immer ein Ort, um die Sache zu klären«, sagt die Theatermacherin Katrin Liersch, eine langjährige Nutzerin des Hauses. Vorausgesetzt, das Vertrauen zu den Mitarbeitern stimme, sowohl von Seiten der Jugendlichen als auch der Eltern. Bei ständigem Wechsel ließe sich ein solches Vertrauensverhältnis nicht aufbauen. Harkenthal kann sich hingegen vorstellen, dass die bisherigen Mitarbeiter auch von den neuen Trägern übernommen werden, wenn beide Seiten dem zustimmen. »Die vorrangige Einstellung der bisherigen Mitarbeiter wird auch ein Kriterium für die Ausschreibung sein«, sagt der Jugendamtsleiter. Auch bei der Qualifikation der Beschäftigten und der Zahlung von Tariflöhnen möchte das Jugendamt Vorgaben machen. Werden die Angestellten nicht übernommen, werden sie über den Stellenpool des Senats vermittelt.
Die Naunynritze und die anderen Jugendeinrichtungen im Bezirk sind bei weitem keine Einzelfälle. Andere Bezirke haben ihre Kinder- und Jugendhäuser schon komplett in freie Trägerschaft übergeben. Auch bundesweit geht der Trend zur freien Trägerschaft, aber auch zur Kompletteinsparung. Jugendarbeit ist laut Kinder- und Jugendhilfegesetz ein freiwilliger Arbeitsbereich, den der Staat nicht unbedingt bezahlen muss. »Es gibt die Tendenz, dass die Jugendarbeit eher abgebaut als übertragen wird«, meint daher Norbert Hocke von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW).
Aus wissenschaftlicher Perspektive beobachtet auch die Dortmunder Arbeitsstelle für Kinder- und Jugendhilfestatistik seit Ende der 90er Jahre die Tendenz zu erheblichen Einsparungen. Zwischen 2002 und 2006 verzeichnet sie eine Zunahme von Jugendeinrichtungen ohne hauptamtliches Personal. Außerdem habe sich die Zahl der Vollzeitkräfte in der Kinder- und Jugendarbeit in den letzten zehn Jahren um 40 Prozent verringert.
Die Mitarbeiter der Naunynritze wollen sich mit der aktuellen Entwicklung nicht einfach zufriedengeben und fürchten außerdem den Verlust ihrer Unabhängigkeit. »Bezirk und Senat geben damit den wichtigen jugendpolitischen Bereich aus der Hand«, meint eine Mitarbeiterin. Denn freie Träger seien immer auch »Tendenzbetriebe«, d.h. konfessionell, parteilich oder in irgendeiner anderen Art gebunden. Aber auch die Arbeitsbedingungen der freien Träger seien häufig schlechter als die der Städte und Kommunen. Aufgrund der befristeten Finanzierung erhalten die Mitarbeiter nur Zeitverträge, knappe Budgets führten zum Einsatz von MAE-Kräften, um Angebote aufrecht zu erhalten. Für die offene Jugendarbeit seien all dies problematische Rahmenbedingungen. Beschäftigte und Nutzer sammeln zur Zeit Unterschriften und wollen am 1. September, zur Sitzung des bezirklichen Jugendhilfeausschusses, ihren Unmut vor dem Rathaus äußern.
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