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Boygenius: Fans, die ein eigenes Loblied verdienen
Unsere Kolumnistin Nadia Shehadeh war auf einem Boygenius-Konzert und ist geflashed von der doch nicht selbstverständlich lieben Fankultur dort
Kürzlich stand ich abends im Palladium, einer Konzert-Location in Köln. Das Palladium ist berühmt wegen der ganz ausgezeichneten Live-Acts, die dort regelmäßig auftreten. Und berüchtigt wegen der schwarzen Metall-Säulen, die unter anderem vorne rechts und links vor der Bühne eingegossen sind und schlecht stehenden Personen im Publikum die Sicht erschweren. Ich stehe regelmäßig hinter einer dieser Säulen, weil mein bevorzugtes natürliches Habitat bei Konzerten der linke Bereich vor der Bühne ist, und dieses Mal stand ich dort ausnahmsweise sehr gut.
Es war ein schwüler Tag, proppenvoll. Das Palladium hatte im Laufe des Konzertabends Sauna-Temperaturen entwickelt, und auf der Bühne stand eine Person und schmiss Stücke einer Geburtstagstorte geradewegs ins Publikum. Das hört sich zunächst ruppig an, vor allem wenn man bedenkt, dass die Kombination »Hitzeschweiß und Buttercremetortenreste« nicht gerade das ist, was man an einem schwülen Sommerabend auf der Haut tragen möchte. Das Setting aber war so allerliebst, das Konzert so wundervoll gewesen, dass die Tortenstückwürfe nicht wirkten wie entrücktes Rockstar-Gehabe, sondern wie entzückende Fan-Interaktion. Menschen wischten sich an diesem Abend glücklich die Krümel- und Sahnecremereste vom Oberarm und schoben sie sich entrückt direkt in den Mund. Auf der Bühne stand die Indie-Musikerin Phoebe Bridgers, die – umrahmt von ihren Kolleg*innen der Band Boygenius Julien Baker und Lucy Dachs – in ihren 29. Geburtstag reinfeierte.
Nadia Shehadeh ist Soziologin und Autorin, wohnt in Bielefeld und lebt für Live-Musik, Pop-Absurditäten und Deko-Ramsch. Sie war lange Kolumnistin des »Missy Magazine« und ist außerdem seit vielen Jahren Mitbetreiberin des Blogs Mädchenmannschaft. Zuletzt hat Shehadeh bei Ullstein das Buch »Anti-Girlboss. Den Kapitalismus vom Sofa aus bekämpfen« veröffentlicht. Für »nd« schreibt sie die monatliche Kolumne »Pop-Richtfest«.
Boygenius ist offiziell eine »Indie-Rock-Supergroup« (wer mir nicht glaubt, kann es googlen), und Boygenius-Fans sind, so kann ich es nun offiziell sagen, Super-Fans. Schon weit vor Konzertbeginn belagerten sie in einer gefühlt hundert Meter langen Schlange weit vor Konzertbeginn den Bürgersteig hin zum Palladium – bis an die angrenzende Keupstraße in Köln-Mühlheim.
Als die Vorband »Muna« spielte, hatten einige schon eine mehrere Stunden lange Warteschicht in der Sonne hinter sich. Und während der Boygenius-Show klappten dann einige zusammen, weil Hitze, große Aufregung und Enge keine besonders gute Mischung sind. Bridgers, Baker und Dacus unterbrachen mehrmals die Show, um Wasserflaschen ins Publikum zu reichen – dutzende, vielleicht hunderte Flaschen wanderten durch Hände, die brüder- und schwesterlich weitergereicht wurden. Ich kann mich nicht erinnern, je auf einem Konzert gewesen zu sein, bei dem so rücksichtsvoll und umsichtig und fürsorglich miteinander umgegangen wurde. Es war einfach nur »lieb«, wie man es im modernen Jugendslang sagen würde.
Ein von vorne bis hinten liebes Konzert. Die berühmte »Menschenmassen vermeiden«-Leier, die sonst gern genutzt wird, um vor Gefahren zu warnen, war hier fast schon obsolet. Wer sich in die Masse stürzte, den erwarteten aufmerksame Fans, die einem eine Wasserflasche reichten, noch ein bisschen weiter zur Seite rückten und auch mal auswichen, wenn jemand versuchte ein besonders schönes Foto der Band zu schießen. Ich erinnerte mich an ein TikTok-Video, in dem eine Person auf einem Boygenius-Konzert sich mit einem Handy selbst und dann die Band aufnahm und in die Kamera sprach: »Ich bin auf dem Boygenius-Konzert und habe dein Handy gefunden. Ich würde echt traurig sein, wenn ich kein Video vom Konzert hätte, also filme ich mal ein bisschen für dich mit!«
Ich habe ja schon im vergangenen Jahr meine Lobpreisungen auf Indie-Supra-Acts und deren außerordentliche Beziehung zum Publikum gehalten und irgendwann auch den Verdacht geäußert, dass es oft den Fans zu verdanken ist, wenn zu Unrecht geschasste Musiker*innen aus der Versenkung geholt oder nachträglich endlich mit Anerkennung versehen werden. Nach diesem Sommer aber, der ja in seinen Anfängen in Bezug auf die Musikidol-Fankultur-Beziehung am Beispiel Rammstein eher bedrückende Vorfälle in den Vordergrund rückte, muss ich festhalten: Es gibt Fans, von denen ich mittlerweile selbst Fan bin.
Das Boygenius-Publikum ist so eins, und auch die Heerscharen an Taylor Swift-Anhänger*innen, die die sozialen Medien mit ihren überschwänglichen Konzertbesuchsreaktionen fluten, gehören dazu. Kann es etwas Schöneres geben, als Menschenmassen dabei zuzusehen, wie sie nicht scheiße, arschig und rücksichtslos sind, sondern miteinander Spaß haben und aufeinander achten? Von »Machtmissbrauch im Musikbusiness« war ja in den vergangenen Wochen oft die Rede – eine Beschreibung von Zuständen, die sehr verwässerte, worüber man bei den angeprangerten Problemen im Showgeschäft eigentlich sprechen müsste: Rape Culture, Misogynie, cis-männliche Gewalt, Heterosexismus und Queer-Feindlichkeit zum Beispiel. Und diese Probleme schwappen halt von der Bühne auch manchmal auf Teile der Anhänger*innenschaft über, wie wir ebenfalls leider verfolgen konnten.
Als ich mich gemächlich in der langen Schlange, die noch umständlich den meterlangen Auflauf vor dem Boygenius-Merch-Stand umgehen musste, nach draußen in den schwülen Sommerabend treiben ließ, wurde es mir dann auch klar: Ich war gerade an einem wundersamen Ort gewesen, an dem mir nichts Schlimmes hätte passieren können – außer, dass ein wenig Torte auf meinem Shirt hätte landen können. Und mehr kann man meiner Meinung nach von einem gelungenen Live-Musik-Anhänger*innen-Dasein nicht erwarten.
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