Eine Musik, die vorwärtsdrängt

Komplex und zugänglich zugleich: Zum Gedenken an den Komponisten Steve Martland

  • Samuel Logan
  • Lesedauer: 5 Min.
Er war medienscheu und inszenierte sich doch bewusst: Steve Martland trug zum Bürstenhaarschnitt gerne enganliegende T-Shirts – oder auch mal oben gar nichts.
Er war medienscheu und inszenierte sich doch bewusst: Steve Martland trug zum Bürstenhaarschnitt gerne enganliegende T-Shirts – oder auch mal oben gar nichts.

Das Schreiben über »klassische« Musik ist meist eine Form der Gedächtnispflege und weniger aktuelle Auseinandersetzung. Das ist leider auch in Texten über Steve Martland der Fall, dessen Todestag sich diesen Monat zum zehnten Mal jährt. Dabei könnte das ein Anlass sein, das Werk des englischen Komponisten neu zu entdecken oder erneut zu würdigen.

Martland, geboren am 10. Oktober 1954 in Liverpool, wo er auch am 7. Mai 2013 starb, war nämlich einer der ganz wenigen wirklichen Gegenwartskomponisten: Er schrieb Musik nicht nur in der heutigen Zeit, sondern für die heutige Zeit und in einer ihr angemessenen Klangsprache. Weder war er Teil einer hermetischen Avantgarde (die diesen Namen ohnehin oft genug nicht verdient, da ihr kaum jemand folgen kann oder soll) noch der popkulturellen Verflachung. Seine Musik meidet sowohl luftige Höhen, in denen der Sauerstoff knapp wird, als auch den stickigen Morast der Unterhaltungsmusik und ist eher horizontal orientiert: Sie drängt unablässig vorwärts und ist von einer bestechenden Klarheit und Frische gekennzeichnet. Man kann sich weder in sie versenken noch in ihr versinken, aber mit ihr vorwärts loslegen.

Dieser Ansatz steht nicht nur im Einklang mit Martlands politischen Überzeugungen, sondern ist vielleicht auch seiner Herkunft geschuldet. Er war zeit seines Lebens der Arbeiter*innenklasse verbunden, genauer gesagt ihrem politisch wachen Teil, der sich weder geistig noch materiell mit dem zufriedengeben will, was der Kapitalismus ihm zuweist, aber Kritik und Kunst nicht als schöngeistiges Privatpläsier betreibt. Das Rhythmische, Stampfende, Hämmernde seiner Musik könnte hiervon herrühren.

In einer Fabrik hat Martland selbst nie gearbeitet, stattdessen bei Factory Records, dem legendären Post-Punk-Label aus Manchester, das die Musik von Joy Division, New Order und den Happy Mondays veröffentlichte, aber auch die von Martland kuratierte Reihe »Factory Classical« betrieb. Allianzen zwischen Pop und Klassik sind meist gruselig, in diesem Fall jedoch absolut folgerichtig: Der Name von Factory verweist bewusst auf die Industriekultur, und die meisten dort veröffentlichten Bands stammten wie Martland aus dem Proletariat; vermutlich gibt es in keinem Land so viele proletarische Künstler wie in Großbritannien.

Obwohl Martland eindeutig keine Popmusik machte, war er eng mit ihr vertraut, und auch musikalisch war die Verbindung mit Factory durchaus folgerichtig, steht das Label doch für die Entwicklung vom Punk zur elektronischen Tanzmusik, also einer ebenso wie in Martlands Kompositionen vom Rhythmus getragenen Musik.

Bei all dem darf aber nicht vergessen werden, dass Martland bei Weitem kein Autodidakt wie die meisten Popmusiker*innen war: Er studierte Komposition unter anderem beim Niederländer Louis Andriessen, der wiederum beim italienischen Experimental-Komponisten Luciano Berio studiert hatte. Martlands künstlerischer Stammbaum ist also fest in der westeuropäischen Nachkriegsavantgarde verankert.

So mancher Apfel fällt dann aber doch etwas weiter vom Stamm, denn Martlands Musik ist zwar hochgradig komplex, jedoch auch sehr zugänglich. Vielleicht wegen einer angelsächsisch-pragmatischen Skepsis gegenüber kontinentaleuropäischen, »verkopften« Ausdrucksweisen wie der Zwölftonmusik oder dem Serialismus wählte er den (Post-)Minimalismus als Idiom und verwies ansonsten musikalisch am liebsten auf den englischen Barockkomponisten Henry Purcell. Ein Ausdruck von Konservatismus?

Martland selber stellte fest, wie relativ konventionell seine Kompositionen sind: Weder sind sie konzeptionell begründet wie die berühmten vier Minuten und 33 Sekunden Stille von John Cage, noch arbeiten sie mit präparierten Instrumenten, Improvisation oder technologischen Innovationen. Sie bestehen einfach aus Noten, die von den Musiker*innen geübt und gespielt werden. Dieses Vorgehen ist jedoch nicht als konservativ zu bezeichnen, sondern im positiven Sinne als klassisch und demokratisch: Martland komponierte vorzugsweise für kleine Ensembles bzw. Bands, die weder individualistische Genies noch die Autorität eines Dirigenten voraussetzen, sondern Musiker*innen, die gleichberechtigt und konzentriert an der gemeinsamen Sache arbeiten. Die einzelnen Bestandteile von Martlands Kompositionen sind einfach, aber deren gemeinsame Umsetzung verlangt ein hohes Maß an individueller Konzentration und kollektiver Koordination: Sie sind das Einfache, das schwer zu machen ist.

Auch wenn Martland im Vergleich zu vielen zeitgenössischen Künstler*innen eher medienscheu war (über sein Privatleben ist so gut wie nichts bekannt), so ist angesichts der von ihm kursierenden Bilder eine bestimmte Selbstinszenierung nicht von der Hand zu weisen: Zu seinem charakteristischen Bürstenhaarschnitt trug er gerne eng anliegende T-Shirts, dazu mal einen Ohrring, mal eine schwere Halskette, oder er ließ sich gar oben ohne ablichten. Das bewusst proletenhafte dieses Stils passt zu Martlands Herkunft, aber auch zur Körperlichkeit seiner Musik und ergänzt sein nahbares, sensibles und reflektiertes Verhalten. 

Als Beispiel dafür kann folgende Anekdote gelten, die Martland seiner berühmten Komposition »Crossing the Border« beigefügt hat: Nach ihrer Uraufführung 1991 in Gdansk traf er im Zug von London nach Liverpool zwei junge Arbeiter. »Sie lenken mich von meinem Buch ab, bieten mir ein Bier an und beginnen eine Unterhaltung. Der erste hat, da er in Liverpool keine Arbeit finden konnte, drei Wochen lang als Anstreicher gearbeitet und in der Herberge des CVJM geschlafen. Der zweite (auch ein Steve) ist Maurer. Auch er konnte keine Arbeit in Liverpool finden, hat drei Wochen lang in London danach gesucht und nachts in Hauseingängen geschlafen. ›Und was machst du so, Steve?‹ (fragt Steve) ›Äh, ich bin Komponist.‹«

Allen, die Martlands Werk noch nicht kennen, seien zum Einstieg neben »Crossing the Border« folgende Kompositionen empfohlen: die zärtlich-elegische »Mr. Anderson’s Pavane« (1998), die freudestrahlenden »Dance Works« (1993) und der Banger »Horses of Instruction« (1994), der exemplarisch den hellen, klaren Klang und die Gleichzeitigkeit von maschinenhafter Präzision und vitaler Lebendigkeit der Musik Martlands zeigt.

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