Auf die Nacht vertrauen

Wünsch dir was vom Universum: In den Raunächten in Brandenburg

  • Martin Höfig
  • Lesedauer: 3 Min.

Der Schriftsteller und Philosoph Aldous Huxley sagte einst, die größte Sünde gegen den menschlichen Verstand sei es, Dinge zu glauben, für die es keine Beweise gibt. Doch wofür gibt es schon noch Beweise im fortgeschrittenen kapitalistischen Lügengeflecht? Die Raunächte in Brandenburg sind auf jeden Fall toll. Da es wenig künstliches Licht gibt, ist es nachts so stockfinster, dass statt des Sehens die anderen Sinne in gesteigerte Bereitschaft treten. Und da der Blick im Außen nicht mehr viel findet, wendet er sich interessiert nach innen.

Es ist schon fast ein Ritual geworden, dass ich um den Jahreswechsel Freunde im Brandenburgischen besuche. Sie wohnen dort in einem Dorf, nach dem in Richtung Osten nur noch die Oder und dann Polen kommen. Sie weihten mich vor ein paar Jahren in die Raunächte ein – diese zwölf Nächte zwischen den Jahren, meistens vom 25. Dezember bis zum 6. Januar, manchmal aber auch zwischen dem Thomastag, also dem 21. Dezember, und dem Neujahrstag.

Nach altem europäischen Brauch zogen sich am Ende dieser Zeitspanne die stürmischen Mächte der Mittwinterzeit zurück, die übernatürlichen Jäger, auf »wilder Jagd« am Himmel, begaben sich am Ende der Raunächte zur Ruhe.

Seinen Ursprung hat der Brauch vermutlich in der Zeitrechnung nach einem Mondjahr. Ein Jahr aus zwölf Mondmonaten umfasst nur 354 Tage. Wie in allen einfachen Mondkalendern – also solchen, die keine ganzen Mondmonate in mehrjährigem Rhythmus als Schaltmonate einschieben, um mit dem Sonnenjahr in Übereinstimmung zu bleiben – werden die im Vergleich zu den 365 Tagen des Sonnenjahres fehlenden elf Tage und dementsprechend zwölf Nächte als »tote Tage« eingeschoben. Sie sind damit »außerhalb der Zeit«, wodurch die Gesetze der Natur außer Kraft gesetzt sind und die Grenzen zu anderen Welten fallen – zumindest wenn man das so betrachten möchte.

Gerade nach grenzüberschreitenden Berliner Dezembernächten, die durch Glühwein- und sonstige Exzesse auf ihre Weise rau sein können, bieten die Raunächte eine Gelegenheit, der vorherrschenden Kälte anders zu begegnen als im Rausch. Überhaupt sind sie eine Möglichkeit, mal in Ruhe seinen eigenen Geistern gegenüberzutreten, wofür in der alltäglichen Tretmühle der kapitalistisch durchgetakteten Jahrestage immer weniger Raum bleibt.

So sitzen wir unweit der Oder ruhig beieinander und vertrauen unsere Wünsche den Nächten an. Jede Nacht ist anders, und so sollen auch unsere Träume in jeder der zwölf Nächte eine andere Bedeutung haben, und zwar als eine Art Orakel für die zwölf Monate des kommenden Jahres. So will es der Brauch hier im Osten Brandenburgs, und die Freunde fahren darauf ab.

»Eigentlich jedes Jahr kommt verlässlich um den 20.12. herum Wind auf und auch Nebel und andere Wetterphänomene, und es wird milder. So war es auch dieses Jahr, das ist wirklich spannend«, erzählt eine ortsansässige Freundin. Sie verfalle dann quasi intuitiv in diesen Rückschau- und Vorausblickmodus. Mit ihrem Mann und den zwei Kindern schreibe sie an jedem Abend einen Wunsch fürs nächste Jahr auf, die dann – bis auf einen – zu Silvester feierlich verbrannt werden. Um den übrig gebliebenen Wunsch muss man sich selber kümmern; um die elf verbrannten kümmert sich das Universum.

Die Raunächte bieten zumindest die Illusion, dass die eigenen Wünsche wieder einen Wert haben. Die fremdbestimmte Welt, in der wir sonst leben, kann so für elf Tage und zwölf Nächte etwas zurückgedrängt werden.

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