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Vor Schokoladenfondue wird gewarnt

Eine Mahnung aus den 70er Jahren zur Weihnachtszeit

An den Weihnachtsmann habe ich als Kind nie geglaubt. Von dem war bei mir zu Hause nie die Rede. Die Geschenke hat mein Vater eingepackt – direkt nach dem Essen vor der Bescherung. Das dauerte ungefähr eine Stunde. Mein Bruder und ich mussten ins Kinderzimmer gehen und weiter auf das Christkind warten, wie eine Kindersendung hieß, die dann aber schon lange zu Ende war. Ob Weihnachtsmann oder Christkind, das war bei uns alles mein Vater. Er war in Personalunion auch noch der Zeremonienmeister, Chefkoch und Klavierspieler. Denn direkt vor der Bescherung, wenn er schon gebimmelt hatte und wir endlich das dunkle Wohnzimmer betreten durften, wo nur die brennenden Kerzen am Baum die darunter und davor drapierten Geschenke beschienen und Bachs Weihnachtsoratorium von Platte lief, was wie in der Fernsehwerbung wirkte, aber viel besser war, musste noch eine allerletzte Warteschleife absolviert werden: Mein Vater spielte Klavier und sang religiöse Lieder mit meiner Mutter. Die Lieder kannten wir nicht, weil in unserer Familie nie gesungen wurde und auch nie gebetet und auch nie ein Gottesdienst besucht worden war.

Das Klavier hatte sich mein Vater gekauft, als er mehr Geld hatte. In den goldenen 70er Jahren war er im Alter von 36 direkt aus der postuniversitären Arbeitslosigkeit in führender Position in die Evangelische Kirchenverwaltung Hessen-Nassau eingestiegen, weil er in Theologie promoviert hatte. In dieses Studium hatte ihn sein strenger pietistischer, komplett humorfreier Vater mehr oder weniger hineingeprügelt. Es war zumindest dafür gut, dass mein Vater darüber seinen Glauben verlor und uns, seine Kinder, mit dem ganzen religiösen Krempel auch nie behelligte.

Bevor er in der Kirche arbeitete, was er später auch wieder sein ließ, weil diese Institution doch sehr merkwürdig ist (wie Kirchen eben so sind), hatte mein Vater linke Sachbücher gegen den Imperialismus veröffentlicht, teilweise sehr erfolgreich. Doch das Geld für die Familie hatte meine Mutter als Lehrerin verdient. Dafür kümmerte sich mein Vater um das Essen. Und weil er in den 60er Jahren Reiseleiter in Italien und Griechenland gewesen war, um sein Theologiestudium zu finanzieren, hatte er auch schon einen guten Einblick in die mediterrane Küche gewonnen, was mir als Kind aber sehr gleichgültig war, da ich nichts essen wollte, was grün war. Und auch nichts, was rot war: Tomaten mochte ich nicht und auch keinen Käse, weshalb mir Pizza und Spaghetti versagt blieben. Eigentlich aß ich nur Nutellabrote und Salamibrote und Honigbrote und Butterbrote und Marmeladenbrote. Die brachte mein Vater auf einem Tablett ins Kinderzimmer. Leider konnte man Lego und Playmobil nicht essen und auch von Kaugummis konnte man sich in den 70ern nicht ernähren.

Deshalb habe ich auch kaum eine Erinnerung, was mein Vater zu Heiligabend kochte. Würstchen und Kartoffelsalat gab es jedenfalls nicht, das wüsste ich noch, weil ich das natürlich auch nicht gemocht habe. Ich weiß nur noch, dass bisweilen Wackelpudding als Nachtisch serviert wurde, durchgesetzt von meinem Bruder und mir. Der Pudding durfte ausnahmsweise sogar grün sein, mit Waldmeistergeschmack. Trotzdem war auch das Essen für uns eine Zumutung, weil es stets vor der Bescherung stattfinden musste. Selbst wenn es uns geschmeckt hätte, vor Aufregung konnten wir sowieso kaum einen Bissen herunterbekommen. Denn wir mussten vor der Bescherung essen, das hatten unsere Eltern zu unserer ganz besonderen Qual angeordnet – ein immerwährender Streit über die weihnachtliche Dramaturgie. Bis schließlich mein Bruder und ich durchsetzen konnten, dass es erst die Geschenke und dann das Essen gab. Ein erster Sieg für die kommende Generation im Kampf um Weihnachten.

Der zweite Sieg war noch triumphaler: Die Kinder bestimmten die Hauptspeise. Schokoladenfondue sollte es sein. Ich hatte es auf einem Kindergeburtstag gegessen und genossen. Dass es etwas so Schönes zu essen gab, konnte ich kaum glauben. Als wäre es eine Religion, pries ich es als ultimatives Weihnachtsessen. In der Folge erklärten mein Bruder und ich feierlich, dass wir uns nichts anderes zu Weihnachten wünschten. Wir wurden erhört. Als Vorspeise gab es Entenbrust und dann das sagenumwobene Schokoladenfondue als Hauptspeise – olé, olé, olé!

Begeistert tunkten wir Apfel-, Birnen- und Bananenstückchen auf Spießen in verflüssigte Bitterschokolade. Die ersten Bissen schmeckten fantastisch. Ganz so, wie wir es uns erträumt hatten. Und es blieb bei diesem Traum. Denn schon ab dem vierten, fünften Tunken schwante uns, dass man davon unmöglich satt werden konnte. Dieses Glück konnte man immer schlechter herunterschlucken, es begann, die Geschmacksnerven zu verkleben und damit auch unerbittlich die ersehnte Utopie zu verdüstern. So viel Süßigkeit auf einmal war nicht zu schaffen, ohne dass einem schlecht wurde. Mit jedem Bissen verlor das ultimative Weihnachtsgericht an Strahlkraft. Wir konnten es leider nicht aufessen und blieben trotzdem unbefriedigt. Und so begab es sich zu der Zeit in einem Wohnzimmer in Südhessen, dass das Schokoladenfondue nicht zur neuen Weihnachtsreligion ausgerufen wurde. Wir waren dafür zu schwach.

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