Klanginseln am Sehnsuchtsort

Im Rahmen einer Musikinstallation des Komponisten Daniel Ott füllten verschiedene Ensembles den Berliner Westhafen mit experimentellen Klängen.

  • Irene Lehmann
  • Lesedauer: 4 Min.
Die Sonne ging unter und die Töne raus aufs Wasser: Die Tubisten spielten in unmittelbarer Nähe des Hafenbeckens.
Die Sonne ging unter und die Töne raus aufs Wasser: Die Tubisten spielten in unmittelbarer Nähe des Hafenbeckens.

Selten schlüpft man als Zuschauerin eines Konzerts als erstes in eine orangefarbene Warnweste. Und selten ergibt sich die Gelegenheit, einen eher abgelegenen und doch für die städtische Versorgung so wichtigen Ort wie den Westhafen als Konzertort zu erleben. Der Schweizer Komponist Daniel Ott und sein Team brachten ihn mit ihrer urbanen »Landschaftskomposition« »berlin westhafen – umschlagplatz klang« am letzten Wochenende zum Klingen. Insgesamt 68 Musiker*innen aus verschiedenen Ensembles der Berliner Szene für Neue und experimentelle Musik ließen die Besucher*innen vielschichtige Klangräume und innovative musikalische Perspektiven entdecken. Beteiligt waren die Formationen KNM Berlin, ensemble mosaik, ZAFRAAN Ensemble, Ensemble LUX:NM, Solistenensemble Kaleidoskop, Ensemble Adapter und Ensemble Apparat.

Der Hafen, der sowohl als Klangraum als auch mit seinen Lichtspielen faszinierte, wurde dabei als ein sich wandelnder Ort erfahrbar. Musikalische Kulturen konnten sich hier genauso begegnen wie Geschichten der Flucht, der Sehnsucht und des Widerstands.

Im ersten und zweiten Teil eines jedes Abends mäanderte das Publikum zwischen Containern und Hafenbecken und wurde von Klanginsel zu Klanginsel geführt. Tubisten spielten am Hafenbecken, eine Flötistin nutzte eine Betonmauer als Resonanzfläche, weitere Holz- und Blechbläser*innen standen auf den großen Containerkränen, von denen aus sie Signale und Melodiefetzen in die Welt schickten. Streicher*innen saßen unter den Vordächern der Lagerhallen, während Schlagwerker*innen Perkussionseinlagen auf Geländern, Gittern und Metallschildern spielten. Das Wasser, die gestapelten Container und die Mauern der Lagerhallen sorgten dabei für eine unerwartet gute Akustik. Klänge und Melodiefetzen wurden zwischen den Seiten der Hafenbecken hin und her gesandt. Ein Saxofonist und eine Klarinettistin, die sich am äußersten Ende einer der Ladezungen zwischen zwei Hafenbecken positioniert hatten, imitierten zwischendurch täuschend echt die Schreie der Möwen, die zu jedem Hafen gehören. Ein kleines Boot mit Musiker*innen umkreiste die Spielorte, ergänzte das Gespielte, funkte dazwischen. So ergaben sich immer neue Konstellationen des Hörens, die dem Hafen als Arbeitsort entsprachen, in dem Waren umgeladen werden, Züge einfahren und sich unerwartete Dynamiken entfalten. Die Bewegung von Kränen und das Quietschen der rangierenden Waggons fesselten dabei ebenfalls die Aufmerksamkeit der Besucher*innen.

Die gespielten Klänge waren durch ihre hybride Struktur für Überraschungen der Außenwelt offen. Sie nahmen eine Vermittlungsposition zwischen profanem Geräusch und komponierter Musik ein, in dem sie die akustischen Elemente des Hafens aufgegriffen und so die klanglich-visuelle Umgebung noch einmal künstlerisch erfahrbar machten. Dieser Zugang umfasste auch das Publikum, das sich frei durch die Installation bewegen und sich eigene, wechselnde Positionen zum Hören suchen konnte. Sich von Klanginseln anziehen zu lassen, weiterzuziehen, sich zwischendurch anderen Faszinationen des Ortes zuzuwenden – das alles ermöglichte eine aktive Hör- und Sehposition. Die Musik sorgt dafür, den selten betrachteten Ort intensiv wahrzunehmen: etwa die Spiele des langsam schwindenden Lichts auf dem Wasser oder die offene Ladehalle unter dem Zementsilo, die zum idealen Ort für den dritten Teil des Abends wurde.

In diesem Part fanden sich alle Musiker*innen der Ensembles zusammen, um die musikalischen Inseln zu einem großen Ganzen zu fügen. Aus diesem erhoben sich immer wieder Einzelstimmen, die Soli vortrugen, improvisierten und weitere musikalische Sehnsuchtsmotive einflochten, die auf die symbolische Bedeutung des Hafens verweisen.

Hier, wo durch seine Kanäle einst Ost- und West-Berlin verbunden waren, wurden Fetzen von Widerstandsliedern hörbar, aber auch von Stücken Frédéric Chopins, der zwischen Warschau und Paris hin- und herreiste oder von Kompositionen des amerikanischen Jazz-Trompeters Miles Davis. Schließlich diente der Berliner Hafen auch vielen als Station, die von Deutschland oder Osteuropa nach Amerika auswanderten.

Eine Besonderheit der Abende war, dass das Publikum nicht nur aus spezialisierten Hörer*innen der experimentellen Musik bestand. So manchem Klassikfan erschlossen sich hier vielleicht neue Welten. Dafür ist auch die Berliner Hafenverwaltung verantwortlich, die den Künstler*innen immer wieder neue Möglichkeiten für das Proben und die Erforschung des Ortes gegeben hatte. So konnten viele hochkarätige Musiker*innen aus den Ensembles der Berliner Musikszene auf einzigartige Weise zusammenwirken.

Die musikalischen Interventionen luden zum genauen Hinhören ein und entfachten Neugier, kann die Vielschichtigkeit der Hafenklänge sicherlich nicht an einem einzigen Wochenende erfahrbar gemacht werden. Möglichkeiten zur weiteren Erforschung dieser Thematik gäbe es für das Team um Daniel Ott sicher genug: zum Beispiel das 100-jährige Jubiläum des Berliner Hafens 2023. Oder auch andere Hafenorte in der Region, an denen sich Geschichten kreuzen, die von der Identität und dem Alltag der zugehörigen Städte erzählen.

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