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Weite, Enge, Sterne

Das von der Brüdergemeine geprägte Herrnhut wird 300 Jahre alt und feiert das in einer Schau mit Lücken

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 5 Min.

Die Geschichte von Herrnhut beginnt mit einer Flucht und einem Beil. Das Werkzeug brachte der Zimmermann Christian David mit, als er mit Glaubensbrüdern und -schwestern seine böhmische Heimat verlassen musste. Er war Mitglied der Brüderunität, einer an den Reformator Jan Hus anknüpfenden protestantischen Strömung, die 1457 gegründet wurde und deren berühmtester Bischof Johann Amos Comenius war. Als nach Ende des Dreißigjährigen Krieges der Katholizismus in Böhmen erstarkte, wurde sie verfolgt; viele Mitglieder wanderten aus. Einige verschlug es in die Oberlausitz, wo Graf Nikolaus Ludwig von Zinzendorf ihnen Land zur Ansiedlung zur Verfügung stellte.

Am 17. Juni 1722 schlug Christian David mit seinem Beil den ersten Baum für das erste Haus einer Ortschaft, die den Namen Herrnhut erhielt, also unter die Obhut Gottes gestellt wurde. Nun feiert der Ort sein 300-jähriges Jubiläum: mit der Sonderausstellung »Aufbruch, Netz, Erinnerung«, die im dortigen Völkerkundemuseum gezeigt wird und in der auch Davids breites Beil zu sehen ist.

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

Der nicht einmal 6000 Einwohner zählende Ort zwischen Bautzen und Zittau ist bis heute gewissermaßen ein eigener Mikrokosmos. Er ist kulturell, ökonomisch und selbst in der Architektur von der Brüdergemeine geprägt. Diese suchte mit ihren 1727 formulierten Glaubenssätzen eine »christliche Sozialutopie« in Herrnhut zu etablieren, sagt Peter Voigt, Studienleiter der Evangelischen Brüderunität, die neben dem örtlichen Heimat- und dem Völkerkundemuseum die Schau konzipierte. Zu den Prinzipien der Gemeinschaft habe gehört, dass Frauen und Männer gleichermaßen religiöse Ämter bekleiden, in denen sie aber jeweils nur für ihre Geschlechtsgenossen und -genossinnen zuständig waren. Voigt spricht von einer »Symmetrie der Ämter«, die sich in der baulichen Anlage des Ortes fortsetze: Einrichtungen wie die Schwestern- und Brüderhäuser für Unverheiratete wurden entlang »unsichtbarer Symmetrielinien« errichtet. Die Gemeinschaft wollte zudem den Anspruch umsetzen, dass vor Gott alle Menschen gleich seien. Ein Zeichen dafür waren von Frauen getragene Hauben, ohne Unterschied, ob eine Gräfin oder eine Magd sie trugen.

Ein Indiz für den besonderen Charakter von Herrnhut ist auch die Existenz eines Völkerkundemuseums, das heute unter dem Dach der Staatlichen Kunstsammlungen neben großen Häusern in Leipzig und Dresden steht. Seinen Ursprung hat es in der Tatsache, dass es die Neusiedler bald wieder in die Welt zog - als Missionare. Ab 1732 suchten sie ihren Glauben zu verbreiten. Dank der Missionen wurde ein weltweites Netz kultureller, aber auch ökonomischer Beziehungen geknüpft.

Viele Objekte, die heute in dem Museum zu sehen sind, wurden von Missionaren nach Herrnhut gebracht. Ein in der Ausstellung gewürdigtes Beispiel für die wirtschaftlichen Verflechtungen ist die 1747 gegründete Firma Abraham Dürninger, die zunächst Textilien handelte, später aber auch Tabak und andere »Kolonialwaren«. Das Unternehmen besteht bis heute und gehört ebenso zur Brüdergemeine wie ein Betrieb, der die berühmtesten »Botschafter« des Ortes herstellt: die ursprünglich als Anschauungsobjekt für den Geometrieunterricht entwickelten Herrnhuter Sterne, die aus 17 viereckigen und acht dreieckigen papiernen Zacken zusammenzubauen sind. 2021 wurden 780 000 Stück davon hergestellt und weltweit verschickt. Eine Schaumanufaktur ist das touristische Highlight des Ortes.

Die enge Verbindung von Ortsgeschichte, Brüdergemeine und Missionsbetrieb prägt Herrnhut bis heute. Das weltweite Agieren sorgte für Internationalität und frühen Anschluss an eine globalisierte Ökonomie. Zugleich führte die kirchliche Prägung zu einer gewissen Abgeschlossenheit. Carl Friedrich Zelter nahm, wie er an Goethe schrieb, »Ordnung, Zucht und feierliche Stille« im Ort wahr und attestierte ihm eine »weite Enge«. Beim Dichter Heinz Czechowski hinterließ Herrnhut im Jahr 1978 den Eindruck einer »fröhlichen Melancholie«.

Die Ausstellung stellt die 300-jährige Geschichte dieses besonderen Ortes anhand zahlreicher Objekte und Dokumente dar. Lücken in der Chronologie gebe es, anders als bei vielen älteren Orten, nicht, sagt Konrad Fischer, Leiter des Herrnhuter Heimatmuseums. Die vergleichsweise kurze Geschichte habe den Vorteil, dass »vom ersten Tag an alles dokumentiert« sei. Allerdings ist nicht zu übersehen, dass die Ausstellung Lücken und blinde Flecken aufweist, die nicht einem Mangel an Dokumenten geschuldet sind und die zu füllen man offenbar der Initiative eines der Projektbeteiligten, konkret dem Völkerkundemuseum, überlassen hat. Die Rede ist von den Schattenseiten der Missionstätigkeit und der Kolonisierung, die in der eigentlichen Jubiläumsausstellung allenfalls angedeutet werden. So wird an einer Stelle angemerkt, man sei »auch zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der Missionstätigkeit verpflichtet«. Näher ausgeführt wird das in der eigentlichen Sonderschau nicht.

Erst sechs künstlerische »Interventionen« in der benachbarten Dauerausstellung des Völkerkundemuseums lassen tiefer blicken. Dort erfahren Besucher, dass die Brüdergemeine ihre Missionstätigkeit unter dem Eindruck von Berichten über die Sklaverei in der Karibik begann, diese aber nicht infrage stellte, sondern vielmehr selbst lange praktizierte. In einer 2013 veröffentlichten Erklärung räumt die Herrnhuter Brüdergemeine zumindest mit Blick auf ihr Handeln in Surinam ein, man habe sich an einem menschenverachtenden System »in beschämender Weise (...) unkritisch beteiligt«.

Im Völkerkundemuseum sollen die Schattenseiten dieser Praxis auch jenseits der »Interventionen« bald ausführlicher dargestellt werden. Bis 2024 werde die Dauerausstellung völlig überarbeitet, sagt Léontine Meijer-van Mensch, Chefin der Ethnografischen Sammlungen in Dresden und Herrnhut. Die problematische Herkunft vieler Objekte soll thematisiert werden; andere, die etwa wegen ihres sakralen Charakters für eine Ausstellung ungeeignete sind, werden entfernt.

Schon jetzt wird in Kooperation mit dem niederländischen Künstler Jaasir Linger, der Wurzeln in Surinam hat, über Kehrseiten der Mission informiert, etwa den Einfluss auf von den Einheimischen praktizierte Religionen. Auf die nahmen die Missionare wenig Rücksicht: Man sei »selbstverständlich davon ausgegangen, dass europäische Traditionen, Kultur und Theologie der Maßstab für kirchliches Leben sei«, heißt es in der Erklärung von 2013. Es ist eine bittere Ironie, dass die Nachfahren von aus religiösen Gründen Vertriebenen ihrerseits anderen Menschen ihre Religion verwehrten.

Bis 27. November im Völkerkundemuseum, Goethestraße 1; täglich 9 bis 17 Uhr, montags geschlossen.

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