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Humor und Umerziehung

Ein Schrottplatz für Staatsfeinde: Jiří Menzels »Lerchen am Faden« läuft in der Sektion Berlinale-Classics

Ende der 60er Jahre gab es in der Tschechoslowakei eine »Neue Welle«. Politisch sowieso: Bis heute ist »Prag 68« das Symbol dafür, dass der Stalinismus keinen Spaß versteht. Nicht so bekannt ist, dass es auch im Kino der CSSR eine »Neue Welle« gab, mit Regisseur*innen wie Věra Chytilová, Miloš Forman, Jan Němec, Karel Kachyňa und Jiří Menzel.

Da traf Experimentierlust auf Alltagsbewältigung, beeinflusst von der französischen Nouvelle Vague, dem italienischen Neorealismus und dem magischen Realismus der tschechischen Vorkriegs-Avantgarde-Literatur. Auch diese »Neue Welle« wurde nach »dem Sieg der Panzer« (Franz Josef Degenhardt) stillgestellt. Ein künstlerisches Echo gab es in den 70er Jahren in den genialen Kinderfilmen des tschechischen Fernsehens. Von Jiří Menzel (1938-2020) ist diese Kurzanalyse überliefert: »Alles, was uns repräsentiert, enthält Humor. Der ist uns nicht angeboren, der wurde uns aufgezwungen. Denn ohne Sinn für Humor kann man in der Tschechoslowakei gar nicht leben.«

Auf der Berlinale in der Sektion »Classics« läuft seine Komödie »Skřivánci na niti« (Lerchen am Faden), mit der er 1990 die Berlinale gewann. Gewissermaßen ehrenhalber, als der Realsozialismus zusammengebrochen war. Der Film ist von 1969, das Drehbuch hat Menzel zusammen mit seinem Freund, dem Schriftsteller Bohumil Hrabal verfasst. Menzel konnte den Film noch fertigstellen, aber dann war er verboten und sein Regisseur hatte Berufsverbot. Er wurde erst 1989, nach der »Samtenen Revolution«, uraufgeführt, bei der diesjährigen Berlinale läuft eine restaurierte, ungekürzte Fassung.

»Lerchen am Faden« spielt ausgerechnet in einem Umerziehungslager für Staatsfeinde: und das ist dann auch noch der Schrottplatz eines Hüttenkombinats, Anfang der 50er Jahre. Auf der einen Seite arbeiten die Männer, auf der anderen Seite die Frauen. Viel ist nicht zu tun, man spielt Karten oder macht ein Nickerchen. Doch wenn man die symbolische Ordnung, etwa eine Parteiabordnung auf Besuch, durch einen süffisanten Scherz infrage stellt, kann es passieren, dass man vom Geheimdienst abgeführt wird. Man wird also im Lager abermals verhaftet. In der Regel aber macht der Wachpolizist dumme Miene zum an sich völlig harmlosen Spiel.

Es geht auch kaum um Politik, sondern hauptsächlich um sich anbahnende Beziehungen zwischen den Geschlechtern - auf unschuldig anrührende Weise: Einmal stehen ein paar Männer und Frauen um ein Feuer, das in einer Mülltonne lodert. Sie ziehen sich die Arbeitshandschuhe aus und fassen sich an den Händen. Etwas abseits säubert eine Frau mit dem Taschentuch das Auge eines Mannes, bevor sie sich vorsichtig küssen. Doch dann kommt schon der Wachpolizist. Später heiraten zwei von ihnen symbolisch. Er ist schon draußen, sie noch drinnen, aber dann wird er verhaftet, weil er einen Parteifunktionär etwas gefragt hat, was der nicht hören wollte.

Wer nicht fragt, bleibt dumm, heißt es in der »Sesamstraße«. In diesem Film kommt man dafür als Zwangsarbeiter ins Bergwerk. In der letzten Szene fährt ein Fahrstuhl nach unten in den Schacht. Einer aus dem Lager sagt: »Ich bin glücklich, geboren zu sein«. cm

»Skřivánci na niti«, ČSSR, 1969/90. Regie: Jiří Menzel. Mit Rudolf Hrušínský, Vlastimil Brodský, Jitka Zelenohorská. 95 Min. Termine: Do 17.2., 21.30 Uhr: Zeughaus; Sa 18.2., 18 Uhr: Brotfabrik.

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