In die Vollen
Plattenbau
Die Musik der Trompeterin Jaimie Branch gehört zum Dringlichsten, was man im Jazz zurzeit finden kann. Da ist nichts Dekoratives und Behagliches und auch nichts ausgestellt Hochwertiges mehr. Die Stücke, die Branch mit ihrer Band (Chad Taylor am Schlagzeug, dem Cellisten Lester St. Louis und dem Bassisten Jason Ajemian) auf »Fly or Die Live« spielt, sind zum einen unmittelbar zugänglich, einfach schon, weil sie grooven wie Sau und über die Chicagoer Postrock-Tradition, die hier, wenn auch sehr im Hintergrund, mitschwingt, die Kanäle in Richtung der angrenzenden Genres offenhalten. Also nie alt oder klassisch, sondern immer gegenwärtig wirken. Was ja in der Jazz-Musik, zumindest wenn man an der Pflege ihrer Tradition kein Interesse hat, sondern sie weiterführen will, entscheidend sein kann.
Die Musik, die das Quartett im Januar 2020 im Zürcher Club Moods gespielt hat, zerfasert an den Rändern hin und wieder, das Cello kommt immer wieder aufs Neue dissonant von der Seite, während Branch an der Trompete wunderschön prägnante Melodiefetzen fabriziert und Bass und Schlagzeug eine Art schwebende Basis für all das legen. Die Stilvielfalt von Jaimie Branchs Spiel ist beeindruckend, es wirkt nie epigonal. Sondern zuallererst und vor allem anderen unmittelbar lebendig und wenn nicht gehetzt, so doch so, als käme es aus dem Wissen, dass die Welt ein gefährlicher Ort ist und man eventuell nicht ewig Zeit hat. Zumindest nicht, um sich allzu sehr zurückzulehnen. »This is a warning, honey / They’re coming for you«, schreit Branch auf »Prayer for Amerikkka Pt. 1 & 2«, und man glaubt es ihr aufs Wort.
Auf »Like One Long Dream« von Mofaya!, dem zweiten kürzlich erschienenen Album, an dem Branch mitgewirkt hat, geht es ungleich spröder und fordernder zu, wenngleich der Energiepegel mehr oder weniger der gleiche ist wie auf »Fly or Die Live«. Der Saxofonist John Dikeman, der mir bislang nur durch seine Free-Jazz-Alben mit William Parker und Hamid Drake bekannt war, hat sich mit Branch, dem Irreversible-Entanglements-Bassisten Luke Stewart und dem Schlagzeuger Aleksandar Škorić zusammengetan, um zwei lange Improvisationen und eine vergleichsweise kurze ( von circa sieben Minuten) aufzunehmen.
Alle gehen von Anfang an in die Vollen, das Stück »Your Country« klingt wie ein immer wieder aufs Neue ansetzender Wutausbruch, während dem sich die Musiker*innen reihum immer wieder rausziehen oder zurücknehmen, um dann erneut gemeinsam loszupreschen. »The Tank« tastet sich zehn Minuten vor, um dann im letzten Drittel freizudrehen. Gerade Škorić spielt mit unüberhörbarer Virtuosität, aber eben auch mit einem punkartigen In-die-Fresse-Gestus. Das letzte Stück, »Wake Up!«, beginnt so, wie es heißt, um sich dann langsam zu entspannen und das Album im Verhältnis zu den anderen beiden Stücken zu einem vergleichsweise friedfertigen Ende zu bringen.
Es bleiben immer genügend Leerstellen in dieser Musik, kein Instrument dominiert, und das Faszinierende an diesem nur dem ersten Eindruck nach chaotischen Album ist, wie sich hier vier Musiker*innen gegenseitig bei aller ausdauernden Expressivität genügend Raum lassen, um die Ideen der Anderen und ihre spontanen (und manchmal auch ins Leere laufenden) Reaktionen zuzulassen, aufzunehmen und weiterzutreiben. Eine der besten, weil nie beliebig oder blenderhaft wirkenden Free-Jazz-Platten der letzten Monate.
Jaimie Branch: »Fly or Die Live« (International Anthem/Indigo) Mofaya!: »Like One Long Dream« (Trost/Cargo)
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