Ohne Kaffee auf Energielevel 100 plus

Die neue Platte des Multitalents Jon Batiste ist ein opulentes Mixtape der Black Music

  • Jan Paersch
  • Lesedauer: 4 Min.

Jon Batiste ist Sänger, Pianist, Komponist und Bandleader bei Talker Stephen Colbert. Nun erscheint sein neues Album »We Are«, ein schillerndes Mixtape mit verschiedensten Spielarten der Black Music.

Jon Batiste trinkt keinen Kaffee. Aber selbst ein Jazzpianist mit Dauer-Energielevel 100 plus muss irgendwie wach werden. Das Rezept lautet: laut Musik auflegen und dazu durch die Wohnung tanzen. Beim anschließenden Videogespräch ist er bester Laune.

Batiste, geboren 1986 im US-Staat Louisiana, strahlt stets positive Vibes und eine ungeheure Freude an seiner Arbeit aus - was ihn dazu prädestiniert, den Bandleader in der beliebten Late Show von Stephen Colbert zu geben. Die Affirmation liegt dem Afroamerikaner im Blut: »Yes indeed!« ist sein häufigster Ausruf in der Show, ehe er in die Tasten greift und einen rollenden Boogie intoniert.

Seit Generationen bringt die Familie Batiste aus New Orleans Profi-Musiker im Bereich Jazz und Soul hervor. Michael Batiste tourte in den Sechzigerjahren mit der Soullegende Isaac Hayes. Sein Sohn Jon hat den Vater in Sachen Bekanntheit längst überholt. Er ist eine Fernsehpersönlichkeit und dazu ein gefragter Bandleader, Produzent und Komponist. Vor ein paar Wochen erst gewann er einen Golden Globe für die Musik zum Pixar-Film »Soul«, auch bei der Oscarverleihung Ende April darf sich Batiste Hoffnungen machen. Nun erscheint sein neues Album »We Are«. »Du kannst den Titel als Frage verstehen, die gleichzeitig die Antwort ist«, sagt der Pianist und Sänger, während er durch die Küche saust, »We are? We are the ones! Wir sind besonders. Jeder ist einzigartig, auch unter den Milliarden, die schon gelebt haben.« Die Binsenweisheit sei dem Mann gestattet, genau wie sein großes Selbstbewusstsein.

»Mein Ziel ist: in der Halbzeit-Show des Superbowl aufzutreten. Aber ich will auch immer noch in kleinen Jazzclubs spielen. Ich bin wie alle Künstler - ich will all das machen können, worauf ich gerade Lust habe.« Sich austoben, verschiedene Spielarten der Black Music ausprobieren - das scheint die Devise bei den Aufnahmen zu »We Are« gewesen zu sein. Fast alle Songs schrieb der Künstler backstage in der Künstlergarderobe der Late Show. Rund um die Uhr habe man dort gejammt, so Batiste über die acht Tage im Herbst 2019: »Freunde von mir hielten die Musik am Laufen, während ich rausging, um an ›Soul‹ zu arbeiten oder Interviews zu geben.«

Das Resultat lässt den Jazzclub-Batiste nur erahnen. »We Are« ist ein schillerndes Mixtape mit Trap, Funk, Souljazz und Old-School-Rap und, und, und. »Tell the Truth« ist ein echter Motown-Schwofer, »Boy Hood« bounct wie ein guter R&B-Song für die Kids, »Cry« ist eine vergleichsweise schlichte, vom Künstler mit schmerzvoll empfundenem Falsett intonierte Ballade. Auf »Whatchutalkinbout« reüssiert Batiste als Rapper. Der Hit kommt nach dem ersten Drittel: »I Need You« hat den Swing einer alten Bluesnummer und die Eingängigkeit eines Pharrell-Williams-Songs - ein brillantes Stück Musik.

Der berühmte Bassist Marcus Miller schreibt über Jon Batiste, seine Fähigkeiten beschränkten sich nicht bloß auf sein Talent oder sein enzyklopädisches musikgeschichtliches Wissen. »Jons einzigartige Gabe besteht darin, unterschiedliche kulturelle Strömungen aus Vergangenheit und Gegenwart wahrzunehmen und sie zu nutzen, um sein Werk und damit letztlich die Kultur selbst zu formen.« Große Worte, die aber den Kern treffen: Jon Batiste macht den Jazz wieder sexy. Allabendlich bringt der Pianist dieses 100 Jahre alte Genre mit seinen tausend Facetten (dominant: Gospel und Soul) einem Millionenpublikum nahe, das eigentlich nur auf die Witze von Showmaster Colbert wartet.

Auch politisch ist Batiste einflussreich. Ende Februar spielte er für das New Yorker Impfpersonal in einer großen Veranstaltungshalle sein erstes Bandkonzert seit März 2020; im Sommer desselben Jahres trat er Open Air bei mehreren Black-Lives-Matter- Demonstrationen auf. Sein Stammpublikum zieht er so mühelos auf seine Seite, doch wie erreicht er diejenigen US-Amerikaner, die den gesellschaftlichen Fortschritt mit unverhohlenem Rassismus blockieren?

»Ich muss die gar nicht erreichen«, sagt Batiste. »Als gläubiger Mensch weiß ich: ich muss niemanden auf meine Seite ziehen. Ich bin auch auf ihrer Seite - auf der Seite der Mitmenschlichkeit. Ich will Leute empowern. Wir sollten unsere Feinde lieben.«

Ein nobler Vorsatz. Doch Jon Batiste nimmt man selbst solche hohlen christlichen Phrasen ab. Seine Augen leuchten, ganz zum Schluss gibt es noch ein kurzes Zoom-Ständchen auf dem Flügel. Ein Lachen, und ein Ausruf: »Yes indeed!«

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