Kein Wiedersehen im Jahr des Ochsen

Die chinesische Regierung versucht mit rigorosen Mitteln, die Reisen zum Neujahrsfest einzuschränken

  • Fabian Kretschmer, Peking
  • Lesedauer: 6 Min.

Wenn Frau Huang vom diesjährigen Neujahrsfest erzählt, kann sie ihre aufgestauten Emotionen auch hinter der Gesichtsmaske kaum verbergen. Die 50-Jährige hat in der Pekinger Arbeitersiedlung Picun einen Marktstand aufgebaut, wo sie am Wegesrand in der klirrenden Januarkälte Sonnenblumenkerne, getrocknete Früchte und Äpfel verkauft. »Normalerweise arbeite ich bis kurz vorm Neujahrsfest durch, denn dann kaufen die Leute noch mal ordentlich ein«, sagt sie. Danach fahre sie eigentlich immer zu ihrem Sohn, der im Teenager-Alter ist und rund 700 Kilometer südlich in der Provinz Shandong bei seiner Großmutter aufwächst. Im Jahr des Ochsen muss jedoch die Familienvereinigung ausbleiben - zu streng sind die Reisebeschränkungen und Quarantäneauflagen.

Hunderte Millionen Chinesen werden beim wichtigsten Fest des Jahres ihre Verwandten dieses Mal nicht wiedersehen können. Das laut Mondkalender am 12. Februar gefeierte Neujahrsfest bezeichnen viele Medien als »größte Völkerwanderung der Welt«, schließlich ist normalerweise fast die Hälfte der 1,4 Milliarden zählenden Bevölkerung auf Reisen. Im letzten Jahr sorgte das Neujahrsfest allerdings dafür, dass sich das in Wuhan ausgebrochene Coronavirus in sämtliche Provinzen ausbreitete, und dieses Szenario will die Pekinger Regierung 2021 unbedingt verhindern.

Wirkungsvolle Abschottung

Für kurze Zeit sah es im Januar so aus, als könnte die epidemiologische Lage in China kippen: Nach mehreren Monaten mit nur kleinen Infektionsherden, die zurückverfolgt werden konnten, drohte dem Land eine zweite Corona-Welle.

Kurz vor dem chinesischen Neujahr sind die Behörden aber zuversichtlich, dass das schlimmste Szenario abgewendet werden konnte. Am 9. Februar meldeten die Gesundheitsbehörden erstmals in diesem Jahr landesweit keine lokalen Ansteckungsherde.

Zuvor breitete sich das Virus in mehreren Provinzen aus, vorwiegend im Norden des Landes. Über 2000 Infektionen zählten die offiziellen Statistiken, wahrscheinlich dürften es aber deutlich mehr gewesen sein. Denn viele Fälle können in den ländlichen Gebieten, wo die medizinische Infrastruktur nur rudimentär ausgebaut ist, lange unbemerkt bleiben.

Die Infektionszahlen sind in China zwar im internationalen Vergleich sehr niedrig, für die Zero-Covid-Strategie im Land stellen sie dennoch eine Bedrohung dar. Seit letztem Frühjahr setzt die Regierung darauf, nicht nur die Infektionskurve abzuflachen, sondern das Virus weitestgehend auszulöschen. Das Mittel dafür sind drastische Shutdowns, sobald Infektionen auftauchen, sowie de facto geschlossene Landesgrenzen und strikte Quarantänemaßnahmen.

Doch abseits der wenigen Brennpunkte ist der Alltag in China seit einigen Monaten fast wieder normal. In Peking beispielsweise sind nach wie vor die Kneipen, Einkaufszentren und Kinosäle geöffnet. Zugleich wurde aber nur wenige Kilometer entfernt eine ganze Vorstadt regelrecht abgesperrt.

Derzeit lässt sich sagen, dass Chinas Corona-Strategie effizient ist: Die Wirtschaft wächst seit rund einem halben Jahr wieder, was nur dank der niedrigen Infektionszahlen möglich wurde. Dennoch steht das Land vor dem Problem, dass es die geschlossenen Grenzen wohl noch mindestens ein Jahr lang, möglicherweise auch ein weiteres aufrechterhalten muss. Denn die Bevölkerung von 1,4 Milliarden Menschen wird allen Schätzungen zufolge nicht in diesem Jahr durchgeimpft werden können. Ohne Herdenimmunität jedoch stellt quasi jeder importierte Fall eine grundsätzliche Bedrohung dar.

Das hat weitreichende Folgen. Ausländer beispielsweise, die oftmals seit etlichen Jahren in China wohnhaft sind, können nicht in die Volksrepublik zurückkehren, sobald sie einmal außer Landes sind, selbst wenn sie einen negativen Test vorweisen können und in Quarantäne gehen. Auch viele junge Chinesen haben ihre internationalen Studienaufenthalte abgebrochen. Das Land schottet sich also ungleich stärker ab als viele andere Länder der Welt.

Auflagen erschweren das Reisen

»Die Regierung hat Arbeitsmigranten dazu ermutigt, während der Feiertage nicht nach Hause zu fahren - aus Angst, dass sich das Virus weiter verbreiten könnte«, sagt Christine Peng, die für die Schweizer Großbank UBS in China den Bereich »Consumer Research« leitet und Expertin für die Konsumgewohnheiten im Land ist. Noch immer befänden sich die Inlandsreisen nicht auf dem Vorkrisen-Niveau - einer der wenigen Bereiche, in denen die Wirtschaft der Volksrepublik noch nicht wieder voll angezogen habe.

Ein offizielles Reiseverbot gibt es zwar nicht, dafür aber viele Hindernisse. So muss laut der nationalen Gesundheitskommission jeder Chinese, der in ländliche Gegenden fährt, nicht nur ein aktuelles negatives Corona-Testergebnis vorzeigen, sondern auch eine 14-tägige »Gesundheitsbeobachtung« absolvieren, bei der die eigene Körpertemperatur mehrmals täglich an die kommunalen Behörden durchgegeben wird. Einige Dörfer haben sich zudem aus Angst vor eingeschleppten Infektionsfällen komplett abgeschottet.

Solche rigiden Maßnahmen, so haben viele Nutzer auf sozialen Medien kritisiert, beträfen weniger die urbanen Eliten des Landes, sondern vor allem jene 300 Millionen Arbeitsmigranten, die aus den unterentwickelten Hinterlandprovinzen in die Küstenmetropolen gezogen sind, um dort ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Epidemiologisch machen die Abschottungen durchaus Sinn, schließlich ist die medizinische Infrastruktur in den ländlichen Gebieten nur rudimentär entwickelt. Doch für die einfachen Arbeiter kommt ein ausgefallenes Neujahrsfest dennoch oft einer persönlichen Tragödie gleich: Viele von ihnen sehen ihre zurückgelassenen Kinder und Eltern nur einmal im Jahr.

Eine abgeschottete Stadtrandsiedlung

Ein typisches Quartier für Zugezogene ist die Siedlung Picun an der östlichen Peripherie Pekings. Weit hinter dem fünften Stadtring, vorbei an Heizkraftwerken und Hochspannungsmasten liegt das ummauerte Wohnviertel, an dessen Eingang schwarzuniformierte Männer mit russischen Fellmützen darauf achten, dass jeder Besucher auf seinem Smartphone einen »grünen Gesundheitscode« vorweist. In den engen Gassen offenbart sich schließlich eine Stadt in der Stadt: Auf engstem Raum reihen sich Friseurläden und Handygeschäfte, kleine Ecklokale und Gemüsemärkte.

Eine klein gewachsene Müllsammlerin mit gebückten Rücken schlurft mit einem grauen Sack im Schlepptau durch die Marktstraße. Sie sei aus der bergigen Sichuan-Provinz nach Peking gezogen, erzählt sie. Gemeinsam mit ihrem Sohn wohnt sie hier, doch ihre drei Enkel leben nach wie vor in der weit entfernten Heimat im Landesinneren. »Dieses Jahr können wir sie nicht sehen«, sagt die 70-Jährige: »Mein Sohn hat eine Vollzeitarbeit. Er kann es sich nicht leisten, bei der Rückkehr 14 Tage in Quarantäne zu gehen.«

Doch neben den vielen Vorsichtsmaßnahmen, die das Reisen erheblich erschweren, haben Pekings Regierungsbeamte auch etliche positive Anreize gesetzt, um die Bevölkerung zu einem »friedlichen und gesunden« Neujahrsfest zu motivieren. So wurden Unternehmen dazu aufgefordert, den daheimgebliebenen Arbeitsmigranten Verdienstmöglichkeiten zuzusichern. Außerdem bieten Streamingdienste kostenlose Filme an, touristische Sehenswürdigkeiten locken mit Preisnachlassen und die großen Telekommunikationsanbieter mit 20 Gigabyte Datenvolumen. Die Flugbehörden haben zudem zugesichert, dass Kunden sämtliche Kosten für Buchungen im Vorfeld des Neujahrsfestes vollständig rückerstattet bekommen.

Volkswirtschaftlich könnten die Maßnahmen aufgehen, denn derzeit verfügt China als einziges Land weltweit über eine vollständige eigene Wertschöpfungskette. Wenn also auch über die Feiertage produziert wird, kurbelt dies zusätzlich die Exporte an. Dabei ist das Bruttoinlandsprodukt bereits jetzt schon wieder auf Vorkrisenniveau angewachsen - 2020 expandierte Chinas Wirtschaft um 2,3 Prozent.

Angst vor Mutationen

Möglich ist dies aber nur, weil die Behörden das Virus über Monate mit konsequenten Maßnahmen eingedämmt haben; zeitweilig gab es fast keine neuen Infektionen. Seit Anfang Januar droht die Lage aber zu kippen. Zwar liegen die täglichen Infektionszahlen nach wie vor lediglich im niedrigen dreistelligen Bereich. Doch aufgrund der neuen hochansteckenden Mutationen und der Gefahr von unentdeckten Fällen in ländlichen Gebieten greifen die Behörden mit aller Härte durch: Wohngebiete in drei Provinzen wurden erneut in einen strikten Lockdown versetzt, darunter der Pekinger Bezirk Daxing sowie mehrere Städte im Nordosten des Landes.

Am Vorplatz des Pekinger Zentralbahnhofs, wo um diese Jahreszeit Hunderte Arbeitsmigranten mit ihrem Hab und Gut auf ihre Züge warten, herrscht an diesem sonnigen Februarvormittag gähnende Leere: Nur ein paar Dutzend Chinesen ruhen sich in der Wintersonne auf ihren Reisekoffern aus, schlagen die Zeit mit Handy-Videos und Filterzigaretten tot. Vor dem sozialistischen Prachtbau halten sich deutlich mehr Passagiere auf als Sicherheitskräfte: Nur eine junge Rekrutenkompanie in olivgrünen Wintermänteln patrouilliert auf dem mit Gittern abgezäunten Bahnhofsplatz. Aber unzählige Polizisten wärmen sich in geparkten Reisebussen auf. Sie sind einsatzbereit, falls es vor dem Fest doch noch zu Zwischenfällen kommen sollte.

Das Jahr der Ratte brachte kein Glück

Viele Chinesen werden froh sein, wenn mit dem 12. Februar das »Jahr der Ratte« - seit 2020 unweigerlich mit dem Corona-Ausbruch verbunden - endlich vorüber sein wird. Laut dem chinesischen Tierkreiszeichen folgt nun das Jahr des Ochsen, das im Nationalen Kunstmuseum Pekings, nur einen Steinwurf von der Verbotenen Stadt entfernt, mit Papierschnitten, Skulpturen und Zeichnungen künstlerisch willkommen geheißen wird. Am Eingang der Ausstellung stehen riesige Informationstafeln mit den pathetischen Worten des Staatschefs Xi Jinping: Es sei wichtig, dem Volk mit gesenktem Kopf zu dienen wie der willige Ochse, Innovationen voranzutreiben wie der richtungsweisende Ochse und die Tradition des einfachen Lebens zu pflegen wie der fleißige Ochse.

Dass das Jahr des gehörnten Nutztiers auch ein Wiedersehen mit der Familie mit sich bringen wird, darüber macht sich der Taxifahrer Li Kai gar keine Sorgen. Er stammt aus einer Satellitenstadt Pekings, wo seine Frau und die vier Kinder nach wie vor leben. Das Virus ist in Lis Leben längst kein Thema mehr, dafür ist er zu beschäftigt. »Ich arbeite hart, um meine Familie durchzubringen«, sagt der Mittvierziger mit der Kurzhaarfrisur. Um sechs Uhr fängt seine Schicht an, erst um elf Uhr abends macht er Feierabend. Wer sein weißes Taxi betritt, muss eine Maske tragen und sich per QR-Code mit seinem Smartphone registrieren.

Seine Familie plant er trotz der Reisebeschränkungen zu besuchen. »Zwar muss ich in meiner Heimatstadt offiziell eine zweiwöchige Selbstisolierung machen, aber streng überprüfen tut das niemand«, sagt Li Kai. Und ohnehin sei er bereits geimpft worden, sagt er. Die zweite Dosis folge noch im Februar.

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