Der totgesagte Jazz ist sehr lebendig
Plattenbau
Die ersten Sekunden des Albums »Live« der Sängerin und Klarinettistin Angel Bat Dawid und ihrer Band Tha Brothahood sind noch nicht während des Konzerts auf dem JazzFest Berlin aufgenommen, sondern in dem Hotel, in dem die Musiker*innen während ihres Aufenthalts in der Stadt untergebracht waren. Dawid gerät mit einem Hotelmitarbeiter aneinander und brüllt mit dem Zorn der Gerechten: »Ever since I’ve been here y’all have treated me like shit!«
Alles ist aufgeladen und angespannt im Vorfeld des Konzerts, wie man diesem field recording und auch dem Pressetext zum Album entnehmen kann: Zwei Tage vor dem ersten Konzert von Angel Bat Dawid in Europa im Winter 2019 musste das Bandmitglied Viktor Le Givens nach einem Zusammenbruch in Chicago ins Krankenhaus. Nach der Ankunft in Berlin wird die Band von den Festival-Organisator*innen darüber informiert, dass man, wenn kein Ersatz gefunden würde, das Honorar reduzieren müsse, schließlich sei es ja nun ein Musiker weniger. Die Frage, die Dawid stellt, liegt nahe: »How the fuck is this response ever acceptable anywhere?«
Das alles ist mehr als nur anekdotisch, sondern wird bewusst von Dawid in Interviews als exemplarische Erfahrungen schwarzer Künstler*innen beschrieben, die direkt Eingang finden in eine sich als dezidiert antirassistisch verstehende Musik. »Live« ist, so kann man es gleich vorwegnehmen, eines des intensivsten und überwältigendsten Jazz-Alben seit Langem; Musik, die vor Energie und improvisatorischer Intelligenz geradezu platzt.
Die Art, in der hier Free-Jazz-Spielweisen in klaren Grooves zentriert werden, führt dazu, dass Songstrukturen und freie Improvisation sich gegenseitig antreiben. Und aus der Wut speist sich die Energie: »Es war eine sehr befreiende und schöne Show. Wir haben uns den Arsch abgespielt.«
Das hört man, von der ersten Minute an. Angel Bat Dawid schließt an die Tradition des Chicagoer »Association for the Advancement of Creative Musicians« der Sechziger rund um das Art Ensemble of Chicago an. Die zweite Referenz ist Sun Ra, die dritte Gospel. Die Wut dieser Musik kippt immer wieder in empathische Trauer oder ausufernde, utopische musikalische Schönheit (zum Beispiel in der viertelstündigen Version von »We Are Starzz«).
In »Black Family« rappt Angel Bat Dawid gebrochen, »The Black Family is the strongest institution in the world«, und fordert das Publikum zum Mitsingen auf. Das aber verharrt offenbar weitgehend regungslos auf den Sitzen, und Dawid dreht auf und schreit: »What's wrong with me?! You don't love my family!« Ob spontaner Ausbruch oder bewusst gesetzter Teil einer als konfrontativ konzeptionierten Performance lässt sich schwer sagen.
»Black Family« geht in den elegischen Klagegesang »What Shall I Tell My Children Who Are Black« über. Die gegenseitige Durchdringung von Konfrontation, der Freude am Sound an sich und der Trauer über das Zerschlagene nach Jahrhunderten rassistischer Gewalt, struktureller wie physischer, machen diese Musik aus. Eine Musik, die nicht zuletzt belegt, dass der immer wieder mal totgesagte Jazz gerade wieder eines der lebendigsten Musikgenres darstellt.
Angel Bat Dawid & Tha Brothahood: »Live« (International Anthem)
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