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Ewige Queen des Dancefloors
Die Alternative zum abgesagten Disco-Besuch: Das neue Album von Kylie Minogue
In der Popmusik sind 30 Jahre eine halbe Ewigkeit. 30 Jahre, das ist der Unterschied zwischen »Rock around the clock« (1955) und »You’re my heart, you’re my soul« (1985), zwischen »She loves you« (1963) und »Mr. Vain« (1993).
30 Jahre, das ist bei Kylie Minogue: nichts. Ihr zum Jahresende erschienenes Album »Disco« knüpft nahtlos an ihren Hit von 1990 an, »Better the devil you know«. Und ihr rund 20 Jahre alter Megaseller »Can’t get you out of my head« hätte sich ebenfalls perfekt dort eingefügt. So viel Konstanz zeigen sonst nur Countrysänger und die Rolling Stones.
Bloß hat es bei Kylie Minogue etwas länger gedauert, bis ihr die verdiente Anerkennung zuteilwurde. Damals, in den frühen Jahren ihrer Gesangskarriere, sah man in ihr nur ein austauschbares Instrument des Produzententrios Stock Aitken Waterman (kurz: SAW). Deren Hitfabrik warf in den späten 80ern und frühen 90ern über 60 Top-10-Nummern auf den Markt; davon gingen allein 15 auf Kylie Minogues Konto. Die Mehrzahl der Lieder ist gut gealtert. Der Songwriter Bernd Begemann hat recht mit seiner Einschätzung: »SAW haben ein paar echte, 100 Prozent wasserfeste Klassiker rausgehauen wie ›Better the devil you know‹: super Song, super Produktion.«
Doch die Qualität dieser synthetischen Konfektionsware wurde damals genauso wenig erkannt wie der feine, aber entscheidende Unterschied zwischen Kylie Minogue und den anderen SAW-Schützlingen. Im Gegensatz zu Mel & Kim, Rick Astley und Co. war sie bereits ein Star, als sie mit dem Singen anfing. Seit ihrem elften Lebensjahr hatte sie in australischen Seifenopern wie den weltweit ausgestrahlten »Neighbours« mitgespielt. Sie war es also gewohnt, in Rollen zu schlüpfen, bevorzugt die des netten Mädchens von nebenan.
Das weckte Sympathie, trug ihr zugleich aber den Vorwurf ein, sie wäre fremdbestimmt. Dies war das erste Missverständnis: Musikkritiker verwechselten die Rolle, die Kylie Minogue verkörperte, mit ihrer realen Person. Man unterstellte ihr, sie wäre auch im wirklichen Leben so naiv und unbedarft wie in ihren Serien und Songs, und wünschte ihr, sie würde sich - wie Madonna es vorgemacht hatte - emanzipieren.
Daher jubilierte die Fachpresse 1995, als sich das brave Mädchen mit dem bösen Buben Nick Cave für die Moritat »Where the wild roses grow« vereinte. Dass sie, die erfahrene Schauspielerin, nur in eine andere Rolle geschlüpft war - dieser naheliegende Gedanke kam seinerzeit nicht auf. Und auch nicht zwei Jahre später, als sie »Impossible Princess« veröffentlichte. Ein Album, auf dem sie zwischen so unterschiedlichen Stilen wie Drum ’n’ Bass, Folktronica, Britpop, Trip-Hop und Technopop hin und her sprang. Das klang wechselweise nach Björk, den Manic Street Preachers und Portishead. Kritiker sahen darin den Beweis für ihre endgültige Emanzipation. Dies war das zweite Missverständnis. Sie war einfach neugierig gewesen, hatte hier ein wenig reingeschnuppert, dort ein wenig ausprobiert. Kylie wollte doch nur spielen.
Ernst machte sie pünktlich zum neuen Jahrtausend mit dem Album »Light Years«. Die daraus ausgekoppelte Single »Your disco needs you« - ein schnörkelloser Tanzdielenstampfer in bester »Y. M. C. A.«-Manier - war ein Manifest. Sie hatte sich entschieden: Discoqueen statt »Impossible Princess«. Selbst wenn sie sich, wie für das Album »Golden« (2018), die Cowgirl-Stiefel anzog und die Wandergitarre umhängte, fand sie sich am Ende doch unter der Discokugel wieder.
Damit gewinnt man natürlich keine Fans aus anderen musikalischen Sphären. Sie ist kein Bowie und kein Beck, die sich immer wieder häuteten und mit jeder Metamorphose andere Zielgruppen erreichten (und bestehende verprellten). Kylie Minogue muss sich nicht neu erfinden. Bezugspunkte ihrer Alben sind - anders als bei Madonna - nie irgendwelche Trends oder gerade angesagte Produzenten. Ihre jeweils aktuellen Songs messen sich allein an ihrem eigenen Werk. Und da lautet die Frage stets: Können die neuen Lieder mit den alten mithalten? Erreichen sie die Klasse von Dancefloor-Hymnen wie »Never too late« (1989), »Spinning around« (2000), »All the lovers« (2010) und »Right here, right now« (2015)?
Ihr neues Werk »Disco« schneidet bei diesem Vergleich hervorragend ab. Es ist ihre bisher homogenste Platte, frei von Füllern und Ausfällen. Es ist aber auch - auf eine nostalgische Weise - ihr beseeltestes Album, weil es eine Welt heraufbeschwört, die es seit knapp einem Jahr nicht mehr gibt: die der Clubs und Diskotheken. Mit dem Shutdown sind nicht nur Ausgehmöglichkeiten weggefallen, sondern ein komplettes Paralleluniversum.
Denn die Disco, das war ja nicht nur eine Musikrichtung, sondern auch ein Ort der Befreiung. Außerhalb ihrer Mauern mochten erbitterte Kämpfe um Gleichberechtigung und Machtteilhabe stattfinden. Doch sobald man in ihr Inneres gelangt war, gab es keine Unterdrücker und Unterdrückten mehr. Die Disco verkörperte eine Gegenwelt, in der jene, die sonst außen vor waren, zum Hauptakteur wurden. Hier spielten Hautfarbe, sexuelle Orientierung und gesellschaftlicher Stand keine Rolle. Hier durften Arbeiterkinder glamouröse Anzüge tragen, Schwule sich als Dragqueens inszenieren und Schwarze einfach schwarz sein. In dem artifiziellen Kosmos aus Kunstlicht und synthetischen Klängen erlebten viele zum ersten Mal echte Freiheit.
Die Euphorie, die damit einhergeht, fängt »Disco« kongenial ein. Die Titel der einzelnen Stücke sind Programm: »Magic«, »Supernova«, »I love it«, »Unstoppable«, »Celebrate you«. Und was bleibt ohne Clubs und ohne Nachtleben noch übrig? Nur ein nie endender »Monday Blues«. Allein schon deshalb muss man »Disco« lieben. Das Album macht einem vom ersten bis zum letzten 4/4-Takt bewusst, dass diese oft triste, verbissene Welt, die Disco braucht - und Künstlerinnen wie Kylie Minogue, die einen daran erinnern.
Kyle Minogue: »Disco« (BMG)
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