Der Feind vor der Tür

Leo Fischer fragt, ob erst die physische Präsenz der Gegner Politiker zum Handeln zwingt

Sollen Politikerinnen und Politiker auf dem Gelände des Bundestags bedroht, eingeschüchtert und gefilmt werden? Über diese Frage herrscht derzeit eine überraschende Einmütigkeit - führende Köpfe aller Fraktionen haben den Versuch der AfD, über eingeschleuste rechte Aktivisten die Angehörigen des Parlaments zu terrorisieren, scharf verurteilt.

Das ist insofern bemerkenswert, weil seit etwa 2014 die gängige Parole lautete, dass man im Namen der Meinungsfreiheit alles, wirklich alles aushalten müsse. Man hat FDP- und SPD-Leute auf Pegida-Demos gesehen, man hat CDU-Spitzen gehört, die mal wieder die Sorgen der Bürger ernst nehmen wollten - natürlich nur die Sorgen der Bürger, die andere Bürger wieder verfolgen und quälen wollen, nicht jener Bürger, die verfolgt und gequält werden sollen. Bücher von Halbrechten darüber, warum man die Ganzrechten nicht aus dem Diskurs verbannen dürfe, wurden Bestseller, im Anschluss an eine Frankfurter Buchmesse, die Identitäre und andere Nazis zu ihrer privaten Bühne ummodeln durften.

Und noch in den letzten Tagen vor der Abstimmung über das Infektionsschutzgesetz wurden sogenannte Corona-Kritiker, die interessanterweise nie ohne dreist antisemitische Symbole und Begleitung durch Nazis auskommen, von Politik und Sicherheitsbehörden mit Samthandschuhen angefasst - während ein besetztes Haus in Berlin mit Hilfe einer kleinen Armee geräumt wurde.

Es hat rund vier Jahre, bis etwa 2018 gedauert, bis die Warnungen von Extremismusforschern vor dem braunen Unterstrom der AfD weitläufig zur Kenntnis genommen wurden. Noch 2016 gab es Überschriften der Art zu lesen, naja, ein paar Spinner habe doch jede Partei. Es brauchte wirklich und wahrhaftig erst einen misslungenen und dann einen erfolgreichen Sturm auf den Reichstag aus diesem Milieu, um die legendäre Gemütsruhe der bürgerlichen Mitte zu erschüttern. Es muss sich anscheinend ein Nazi buchstäblich auf den Schoß von Wolfgang Schäuble setzen, damit dieser in ihm ein Problem erkennt.

Die Verurteilungen und die sich abzeichnenden Maßnahmen sind dabei wieder von einer Zurückhaltung, die den Atem raubt. Es wird von einem Verstoß gegen »demokratische Gepflogenheiten« gesprochen, von einem Angriff auf die Würde des Parlaments - so als hätten Abgeordnete im Sitzungssaal Sandalen getragen oder den Präsidenten geduzt. Der vorgetragene Protest ist, und das ist bei Berufspolitikern dann doch ganz erstaunlich, im Wesentlichen unpolitisch. Es wird rein von Formalien her argumentiert, mit »Gepflogenheiten«, also Angewohnheiten des Betriebs, die auch ganz andere sein könnten. Wenn man bedenkt, dass dieser Staat Linke schon deshalb jahrelang in den Knast steckt, weil sie sich zum falschen Zeitpunkt auf der falschen Demo aufgehalten haben, ließe sich hier leicht eine besonders schlechte Gepflogenheit des politischen Betriebs betrachten: Während Personen, die schlechterdings den Job machen, den der Staat nicht macht - nämlich sich diesen furchtbaren Menschen in den Weg zu stellen -, mit Wasserwerfern weggeballert werden, verfassen Träger der staatlichen Gewalt erst empörte Briefe, wenn ihr Feind schon vor der Bürotür steht.

Die Stimme der Vernunft meint: Offenbar ist es erst die pure physische Präsenz ihrer Gegner, die Abgeordnete zum Handeln zwingt. Möglicherweise müsste man eine Art permanente Pegida- oder Covid-Demo im Plenarsaal einrichten, hinter Glas, damit den Abgeordneten dauerhaft bewusst bleibt, um wen sie sich da so rührend sorgen, wessen Meinung sie ernst nehmen und wessen Wahn sie da Zugeständnisse machen wollen. Es dürfte das Abstimmungsverhalten jedenfalls positiv beeinflussen.

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