- Politik
- EU-Klimaschutz
Schneller als der globale Durchschnitt
Knappe Mitte-Links-Mehrheit im EU-Parlament für höheres Klimaziel - die Konservativen sind sauer
Mit knapper Mehrheit hat sich das Europäische Parlament für ein strengeres Klimaziel ausgesprochen, wie am Mittwoch in Brüssel bekanntgegeben wurde. Die EU soll bis 2030 demnach 60 Prozent weniger Treibhausgase ausstoßen als noch 1990. Bislang liegt die Zielvorgabe bei lediglich 40 Prozent. Für die Erhöhung stimmten Grüne, Sozialdemokraten, Liberale und Linke. Christdemokraten, Rechtsradikale sowie die FDP-Abgeordneten stimmten dagegen. Auch für die Einrichtung eines unabhängigen wissenschaftlichen Klimarats sprach sich das EU-Parlament mehrheitlich aus. Ferner soll die EU-Kommission bis Ende kommenden Jahres ein sogenanntes CO2-Budget festlegen.
Damit geht das Europaparlament über die klimapolitischen Vorstellungen der EU-Kommission hinaus. Sie hatte Mitte September ein CO2-Einsparziel für 2030 von »mindestens 55 Prozent« vorgeschlagen. Grundlage dafür war ein zuvor von der Brüsseler Behörde durchgeführtes, aufwendiges »Impact Assessment«, also eine Folgenabschätzung. Darin war die Kommission zu dem Ergebnis gekommen, dass die sozialen und ökonomischen Wirkungen einer Minderung von 50 bis 55 Prozent aus volkswirtschaftlicher Sicht beherrschbar sind.
Die Erhöhung des Zwischenziels für 2030 ist Teil eines bereits laufenden Gesetzgebungsverfahrens zu einem Europäischen Klimaschutzgesetz, mit dem die angestrebte Klimaneutralität bis 2050 rechtlich verankert wird. Dazu sollte es am Mittwochabend weitere Abstimmungen im Parlament geben. Im Anschluss müssen sich Kommission, Parlament und die EU-Mitgliedstaaten auf einen Kompromiss verständigen.
Der Vorsitzende des Umweltausschusses im Europaparlament, Pascal Canfin, begrüßte das Votum für das 60-Prozent-Ziel. »Wir sind mehr denn je führend in Sachen Klima-Ambitionen«, twitterte der Politiker der französischen Partei La République en Marche. Der Ausschuss hatte das Ziel vorgeschlagen. Der Grünen-EU-Abgeordnete Sven Giegold sprach von »einem großen Schritt im Kampf gegen den Klimawandel«, sein Kollege Michael Bloss von einem »Meilenstein«.
Konservative Abgeordnete hingegen übten teils scharfe Kritik. Reduktionsziele von 60 bis 70 Prozent seien »nicht sinnvoll« und würden »die Axt an den Wohlstand Europas« legen, schimpfte der CSU-Politiker Manfred Weber. Er ist Chef der größten Fraktion im EU-Parlament. Sein CDU-Kollege Markus Pieper sprach von »Fehleinschätzungen« bei dem 60-Prozent-Ziel. Ein so hohes Ziel gehe »extrem über die Pariser Klimaziele hinaus«.
Klimaexpert*innen sehen dies anders. »Um im Sinne des Pariser Klimaschutzabkommens zu handeln, müsste die EU mehr als die vorgeschlagenen 55 Prozent reduzieren«, sagte Niklas Höhne vom New Climate Institute mit Blick auf das 1,5-Grad-Ziel. »Bei voller Einhaltung der 55-Prozent-Reduktion würde die EU nur so schnell Emissionen reduzieren, wie es die ganze Welt für eine Beschränkung der Erwärmung um 1,8 Grad gegenüber dem vorindustriellen Niveau tun müsste.« Der EU komme aber eine besondere Verantwortung zu, deshalb müsse sie die Emissionen schneller senken als der globale Durchschnitt, so Höhne. Etliche Studien hätten gezeigt, dass auch eine Minderung um 65 Prozent technisch umsetzbar wäre.
Ohnehin ist das von der EU-Kommission vorgeschlagene 55-Prozent-Ziel nicht so gut, wie es aussieht. Denn gleichzeitig will Brüssel die Berechnungsgrundlage ändern. Anders als bislang soll neben der Reduktion von CO2-Emissionen auch die Speicherleistung natürlicher CO2-Senken wie Wälder und Böden angerechnet werden. »Dies würde dann einer Minderung der Brutto-Emissionen um knapp 53 Prozent entsprechen«, erläutert Jakob Wachsmuth vom Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung. »Die Ambitionssteigerung ist also etwas geringer, als es den Anschein macht.« Das Ziel der Treibhausgasneutralität bis 2050 lasse sich aber nur erreichen, »wenn die Brutto-Emissionen auf ein Minimum reduziert werden und zugleich ausreichend Treibhausgassenken zur Kompensation unvermeidbarer Emissionen aus der Landwirtschaft und der Zementherstellung geschaffen werden«, so Wachsmuth.
Die von der Kommission geplante Änderung lehnte das EU-Parlament am Mittwoch ab. Die Klimaexpertin der Umweltorganisation Greenpeace Lisa Göldner begrüßte dies: »Klimaschutz lässt sich nicht mit Rechentricks erschwindeln, wie die Kommission es mit dem Anrechnen von Wäldern versucht.« Es sei gut, dass das Parlament diesen »Tricks« eine klare Abfuhr erteile.
Der Umweltökonom Reimund Schwarze vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung sieht noch ein weiteres Problem: »Ein Klimaziel von mindestens 55 Prozent wird nur dann durchzuhalten sein, wenn an der Grenze Ausgleichszahlungen von Ländern mit geringen Ambitionen in der Klimapolitik verlangt werden«, so Schwarze. Für diesen »Carbon Border Adjusment Mechanism« hat die EU-Kommission bislang keine Folgenabschätzung durchgeführt, obwohl die Frage für das 2030-Ziel wesentlich ist. Bis Ende Oktober läuft die Frist für Konsultationen. Ergebnisse wird es wohl im zweiten Quartal 2021 geben. Schwarze kritisiert: »ein bisschen spät in einem sonst straffen Zeitregime«.
In der neuen App »nd.Digital« lesen Sie alle Ausgaben des »nd« ganz bequem online und offline. Die App ist frei von Werbung und ohne Tracking. Sie ist verfügbar für iOS (zum Download im Apple-Store), Android (zum Download im Google Play Store) und als Web-Version im Browser (zur Web-Version). Weitere Hinweise und FAQs auf dasnd.de/digital.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.