Der Fehler im Vertrag

Russland beklagt sich über Nato-Aktivitäten an seiner Grenze, allerdings drei Jahrzehnte zu spät

  • René Heilig
  • Lesedauer: 3 Min.

Verteidigungsminister Sergej Schoigu ist sauer. Die Anzahl der Nato-Aufklärungsflüge entlang der russischen Grenzen sei im Vergleich zum Vorjahr um mehr als 30 Prozent gestiegen. Immer wieder müssten russische Jäger aufsteigen, um Himmelsspione über der Ostsee, der Barentssee und dem Schwarzen Meer abzufangen. Mehrfach »erwischt« wurden Orion-Maschinen mit schwarzem Kreuz am Rumpf. Die Deutsche Marine bestätigt solche Begegnungen, betont allerdings, dass sich ihre Seeaufklärer stets im neutralen Luftraum der Ostsee befunden haben.

Von Russland nicht unbemerkt bleiben auch Verbandsflüge US-amerikanischer B-52-Bomber, die dafür nach Europa verlegt worden sind. In Moskau ist man überzeugt, dass an Bord der Einsatz von Cruise Missiles gegen Ziele in Russland geübt wird. Nicht minder gefährlich schätzt man die Nähe eines US-amerikanischen Atom-U-Bootes ein. Die USS »Seawolf«, eines von drei Booten dieser Klasse, ist besonders leise, schwer zu orten und durch seine Harpoon- und Tomahawk-Raketen ein von der russischen Nordflotte beachteter Gegner. Die US-Navy teilt mit, das U-Boot sei der für den Nordatlantik zuständigen 2. Flotte zugeteilt und habe eine Basis im norwegischen Tromsö. Es ist also nahe den Routen der russischen Atom-U-Boote, die im Atlantik patrouillieren. Vermutlich, so russische Marienexperten, werde das Boot unters Eis abtauchen, um dort mit Hilfe modernster Sensoren Aufklärungsarbeit zu betreiben. Das Gebiet um den Nordpol entwickelt sich immer mehr zu einem Areal des militärischen Wettstreits insbesondere zwischen Russland und den USA.

Dass die nun auch ihre Landtruppen näher an die russische Westgrenze heranschieben, zeigen Aktivitäten in Polen. Dort wird ein Teil der bislang in Deutschland stationierten Soldaten temporäre Stellungen beziehen. Minister Schoigu kritisierte zudem erneut, dass die USA ihr Raketenabwehrsystem zielstrebig ausbauen, was Russland gleichfalls als Bedrohung betrachtet.

»Um die Sicherheit zu gewährleisten und die nationalen Interessen zu schützen, sind unsere Streitkräfte gezwungen, auf unfreundliche Nato-Aktionen zu reagieren und die Kampffähigkeiten zu verbessern.« Alle ergriffenen Maßnahmen, so Schoigu vor wenigen Tagen, zielten ausschließlich auf die Stärkung der Verteidigung und seien in ihrem Umfang begrenzt. Nichts anderes sagt die Nato über ihre Anstrengungen.

Trotz anderer Beteuerung auf beiden Seiten ist klar: Das Verhältnis zwischen Russland und den in der Nato engagierten Staaten hat einen neuen Tiefpunkt erreicht. Hoffnung gebende Abrüstungsverträge samt Kontrollmechanismen wurden gekündigt, es gibt nicht einmal mehr eine gesicherte Telefonverbindung, die helfen könnte, Missverständnisse auszuräumen, bevor Waffen zum Einsatz kommen.

Die weiter ungeklärten Hintergründe des mutmaßlichen Attentats auf den russischen Regimekritiker Alexej Nawalny, der in der Berliner Charité behandelt wird, sind Anlass für einen neuen, noch weitgehend verbalen Schlagabtausch. Hinzu kommen Befürchtungen, Russland könnte sich als »Ordnungsmacht« in Belarus einmischen. Denn klar ist: Das Land spielt in den militärischen Planungen Moskaus eine zu wichtige Rolle, um es an eine dem Westen nützliche Demokratie zu verlieren. Eine Grundlage für die sich verschärfenden Widersprüche wurde am 12. September 1990 mit dem Abschluss des sogenannten Zwei-plus-Vier-Vertrages gelegt. Die Vertragsparteien DDR und Bundesrepublik sowie die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges - also USA, Großbritannien, Frankreich sowie die damalige Sowjetunion - ermöglichten damit die deutsche Einheit.

Die sowjetische Seite, geführt von Michail Gorbatschow und seinem Außenminister Eduard Schewardnadse hätten jedoch trotz der wirtschaftlichen und politischen Schwäche ihres Landes die Chance gehabt, ein östliches Vordringen der Nato vertraglich zu unterbinden. Davon sind nicht nur an den Verhandlungen beteiligte westdeutsche Diplomaten überzeugt. Es ist müßig, heute darüber zu streiten, warum die Moskauer Führung sich derartige Fehler erlaubte. Denkbar ist, dass Gorbatschow selbst allzu sehr seiner Idee vom »Haus Europa« anhing und glaubte, dass das darin anvisierte neue gesamteuropäische Sicherheitssystem die Kraft hat, altes Denken samt alten Bündnissen zu überwinden. Die Realität ist eine andere.

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