Regionalwahlen von überregionaler Bedeutung

Der Urnengang am 13. September in Russland steht im Schatten tiefgreifender Verfassungsänderungen

  • Ewgeniy Kasakow
  • Lesedauer: 3 Min.

Waren in den Jahren zuvor die Regional- und Kommunalwahlen ein eher wenig beachtetes politisches Ereignis, haben die Proteste im Vorfeld der Stadtdumawahlen in Moskau im Sommer des vergangenen Jahres deren Bedeutung in Augen der Öffentlichkeit erheblich aufgewertet. Die Besonderheit der aktuellen Wahlen besteht darin, dass sie die ersten nach den Verfassungsänderungen sind.

Die bei der umstrittenen Volksabstimmung über die Änderungen im Juli zum Einsatz gekommenen »Innovationen« wie Onlinestimmenabgabe, mehrtägige Öffnung der Wahllokale und »Abstimmen an der Haustür« sollen nun regulär angewendet werden. Die Vertreter der Opposition sehen darin neue Methoden, Fälschungen und Manipulation vor den Augen der Wahlbeobachter zu verstecken.

Da die Umfragewerte der Kremlpartei »Einiges Russland« seit Jahren sinken, treten die Kremlkandidaten immer häufiger als Parteilose auf. Währenddessen wird den Kandidaten der Opposition immer wieder die Wahlzulassung verweigert. Nicht nur Anhänger des selbst ernannten Korruptionsbekämpfers Aleksej Nawalny, sondern auch die größte legale Oppositionskraft - die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) - ist damit konfrontiert. Unter anderem in der für oppositionelle Stimmung bekannten Autonomen Republik Komi, sowie in Kamtschatka und in Sewastopol wurden die Kandidaten der KPRF von den Wahlbehörden nicht für die Gouverneurswahlen zugelassen.

Allerdings ist der Ausschluss nicht die einzige Methode, mit denen die Oppositionskandidaten von den Wahlen ferngehalten werden. In einigen Regionen, wie zum Beispiel von den ökologischen Protesten erschütterten Archangelsk, verzichtete die KPRF auf eigene Kandidaten. Im Gegenzug dafür wurden die Top-Politiker der Partei von den amtierenden Gouverneuren zu Senatoren, also Mitgliedern des Parlaments vorgeschlagen. Beliebt ist auch die Zulassung von sogenannten Spoiler-Parteien, die sich an die Wählerschaft der Opposition wenden. So werben etwa die Kommunistische Partei für die soziale Gerechtigkeit mit der Abkürzung »KPSS« (KPdSU) sowie die Partei der Rentner oder die so genannten »Kommunisten Russlands« um die KPRF-Wählerschaft.

Die oppositionellen Kandidaten liberaler Ausrichtung bekommen es mit der »Partei des Wachstums«, der »Bürgerplattform« oder der Wahlliste »Neue Menschen« zu tun. Für die umweltbesorgten Wähler bittet sich die eilig gegründete »Grüne Alternative« an. Die Spoiler gehen bisweilen aggressiv gegen die Konkurrenz vor. Ausgerechnet in Lenins Geburtsstadt Uljanowsk erzwangen die »Kommunisten Russlands« per Gerichtsbeschluss den Ausschluss der KPRF-Kandidaten von der Wahl. Die dortige Liste wurde von den »Kommunisten Russlands« wegen Rassismus verklagt. Grund: Eine Kandidatin mit afrikanischem Background posierte auf den Plakaten als Arbeiterin, Lehrerin und Hausfrau unter dem provokanten Slogan »Wir sind alle Neger«.

Auch die Änderungen der Wahlbezirksgrenzen vor der Wahl, ungleicher Umfang der Kandidatendarstellungen in den offiziellen Unterlagen, bei denen die Biografien der Oppositionellen tendenziös gekürzt werden und Durchsuchungen in den Wahlkampfbüros gehören zum Repertoire der Regierung. Bereits lange vor der Wahl hatte sich die Opposition darauf geeignet, das von Nawalny vorgeschlagene System des »smart votings« zu implementieren. Damit wurden Wähler aufgerufen, ihre Stimme an den aussichtsreichsten Kandidaten, der nicht zur »Einiges Russland« gehört, zu geben. Doch die linke Opposition stemmt sich bis heute dagegen. Sergej Udalzow von der Linken Front (LF) rief etwa dazu auf, überall für die KPRF zu stimmen und keine Stimmen an Nichtlinke zu verschenken. Die LF hat mehrere Kandidaten auf die Listen der KPRF platzieren können. Lediglich in Nowosibirsk, wo die KPRF mit »Einiges Russland« kooperiert, ist die LF ein Bündnis mit der trotzkistischen Revolutionären Arbeiterpartei (RRP) und der linksnationalistischen Bewegung die »Volkswille« eingegangen. Aber trotz der vielen Repressionen sowie der herrschenden Uneinigkeit innerhalb der Opposition könnten die Wahlen am 13. September einige Überraschungen mit sich bringen.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.