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Eine Stadt unter Beobachtung

Nach den Straßenkämpfen in Leipzig diskutiert die Stadtgesellschaft über Gewalt und ihre Ursachen

  • Max Zeising, Leipzig
  • Lesedauer: 4 Min.

In der Ludwigstraße ist wieder Ruhe eingekehrt. Kaum etwas erinnert mehr daran, dass es hier im Leipziger Osten vor ein paar Tagen zu massiven Auseinandersetzungen zwischen linken Aktivisten und der Polizei gekommen war. Auch das ehemals besetzte Haus mit der Nummer 71, dessen Räumung Ausgangspunkt der mehrtägigen Ausschreitungen in der Stadt war, fristet längst wieder ein einsames Dasein. Wo vor ein paar Tagen noch politische Banner hingen, bröckelt nun wieder die braune Fassade. Der Türrahmen ist zugemauert, an den Fenstern im Erdgeschoss wurden Holzbretter angebracht. Hier kommt wohl niemand so schnell wieder hinein.

Ein Besuch vor Ort. Montagabend: Die Polizei ist da, zeigt noch immer Präsenz. Männer und Frauen schieben Kinderwagen über die Bürgersteige. Am Fenster raucht ein alter Mann. Passanten ziehen vorbei, vor allem junge Menschen. Einer schimpft auf »diese Idioten«, die Barrikaden angezündet haben. Eine junge Frau mit Fahrradhelm, die mit ihrem kleinen Kind in direkter Nachbarschaft der Nummer 71 wohnt, kritisiert den »massiven Polizeieinsatz« am Tag der Räumung. Eine andere Frau verweist auf das Problem der Gentrifizierung als eigentliche Ursache der Proteste, auf »diese Münchener und Stuttgarter«, die sich »die Häuser hier anschauen und überlegen, was man daraus machen kann«. Die vergangenen Tage haben Leipzig aufgewühlt. Mit der Idee einer Hausbesetzung können sich viele hier durchaus anfreunden, nicht jedoch mit Gewalt.

Rückblick: Nachdem ein anberaumtes Gespräch zwischen den Besetzern und dem Hausbesitzer der Ludwigstraße 71 geplatzt und das Haus daraufhin geräumt worden war, kam es in der Nacht vom Donnerstag zum Freitag zu Auseinandersetzungen mit der Polizei - zunächst im Umfeld des Hauses. In den folgenden zwei Tagen verlagerte sich das Geschehen dann in den Süden der Stadt, in den linksalternativen Stadtteil Connewitz. Steine flogen, Barrikaden brannten. Auch dort hatten sich Aktivisten Zutritt zu einem Haus verschafft.

Seitdem atmet die Stadtgesellschaft etwas durch und diskutiert darüber, wie die Geschehnisse einzuordnen seien. Anruf bei Juliane Nagel, die jüngst mit ihrem offenen Abgeordnetenbüro »LinXXnet« 20. Geburtstag feierte. »Ich bin kein Fan von Gewalt«, stellte Nagel gegenüber »nd« unmissverständlich klar. Dennoch könne sie verstehen, wenn angesichts stark steigender Mieten »Leute ausrasten«. Die Landtagsabgeordnete der Linkspartei begleitete die Proteste der letzten Tage, sie gilt als parlamentarisches Aushängeschild des Stadtteils Connewitz.

Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD) traf sich am Montag mit Leipzigs Polizeipräsident Torsten Schultze, um das Geschehen vom Wochenende auszuwerten. Am Dienstagmittag informierten Jung und Schultze dann die Öffentlichkeit in einer eilig einberufenen Pressekonferenz im Neuen Rathauses. Das Interesse war groß, der Raum bis auf den letzten Platz gefüllt. Der Oberbürgermeister und sein Polizeichef saßen vor einem Gemälde des »Schlachtenmalers« Robert von Haug: »Die Erstürmung des Grimmaischen Thores«. Eine Szene aus der berühmten Völkerschlacht bei Leipzig im Jahre 1813.

Diese Darstellung eignet sich gewiss keineswegs als Symbol für die aktuellen Vorkommnisse, und dennoch stand die Debatte um Gewalt auch bei dieser Pressekonferenz im Mittelpunkt. Sie sei »kein Mittel der Auseinandersetzungen«, mahnte Burkhard Jung. »Kein Steinwurf« ändere etwas im demokratischen Prozess. Zwar verstehe er »die Angst und Sorgen«, jedoch würden die Demonstranten vom Wochenende andere Ziele verfolgen: »Diese Menschen haben das Ziel, den Staat vorzuführen.« Etwas schärfere Klingen schwang Polizeichef Schultze, der Leipzig ein »Problem mit linksextremistischer Gewalt« attestierte.

Zugleich erneuerte Jung sein Versprechen, dem Problem der Mietsteigerungen Priorität zu schenken. »Wir haben keine Wohnungsnot, aber eine deutlich angespannte Entwicklung«, sagte er und versprach 10 000 Sozialwohnungen in den nächsten Jahren. Allerdings prognostizierte er auch: »Es wird Freiräume geben, die in Zukunft keine Freiräume mehr sein werden.«

Währenddessen saß Sachsens Innenminister Roland Wöller bei einer Pressekonferenz in Dresden und kündigte an, in Zukunft noch härter durchgreifen zu wollen. Die Gewalt habe eine neue Dimension erreicht, meinte der CDU-Politiker: »Das hat nichts mehr mit legitimem Protest zu tun.« Wöller sprach sich dafür aus, das Mindeststrafmaß bei einem tätlichen Angriff auf Vollstreckungsbeamte auf sechs Monate heraufzusetzen.

Auch am kommenden Wochenende dürfte der Innenminister wieder ganz genau hinsehen. Denn schon am Samstag könnte es zu neuerlichen Auseinandersetzungen kommen. Dann nämlich will die linksradikale Plattform »Nationalismus ist keine Alternative« im Leipziger Osten anlässlich des ursprünglich geplanten EU-China-Gipfels auf die Straße gehen. Zwar wurde dieser aufgrund der Corona-Pandemie abgesagt; an ihrer Demonstration, die sich »gegen die Festung Europa und das autoritäre Regime Chinas« richtet, will »NIKA« jedoch festhalten.

Laut Leipzigs linkem Ordnungsbürgermeister Heiko Rosenthal werden rund 800 Teilnehmer erwartet. Das Kooperationsgespräch mit dem Anmelder sei für Dienstag geplant gewesen. Rosenthal sprach sogleich eine Warnung aus: »Bei unfriedlichem Verlauf ist die Route nicht zu laufen.«

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