Ende der Offensive

Neonazistischer Drohbriefschreiber vor Gericht in Berlin

  • Josefine Körmeling
  • Lesedauer: 3 Min.

»Können Sie etwas zu der politischen Einstellung des Angeklagten sagen?«, fragt der vorsitzende Richter die Zeugin. Das sei nie so richtig Thema gewesen, antwortet sie, »aber tendenziell eher rechts orientiert«. Diese Einschätzung bezieht sie auf Fotos vom Zimmer des Angeklagten, die sie gesehen habe - eine dunkle Kammer im Haus seiner Eltern, die Wände volltapeziert mit Hakenkreuzfahnen und anderen Nazi-Emblemen. Dort hatte der Angeklagte André M. bis zu seiner Verhaftung im April 2019 gelebt und das Haus so gut wie nie verlassen.

Wie mehrere Verfahrensbeteiligte berichteten, spielte sich sein Leben eher in den Tiefen des Internets ab, als in der Realität. Dieser muss sich André M. jedoch jetzt stellen: Er ist angeklagt für das Versenden von über 100 Drohemails an Behörden und Personen des öffentlichen Lebens, unterzeichnet mit dem Pseudonym »nationalsozialistische Offensive« (NSO). Die Liste der Adressat*innen der in gewaltvoller Sprache verfassten E-Mails reicht von Sängerinnen wie Helene Fischer, über die Polizei, bis zu linken Politikerinnen wie Martina Renner, die im Fall die Nebenklage inne hat.

Bereits zahlreiche Prozesstage fanden seit dem Beginn Ende April statt. Diesen Dienstag sagte die Frau als Zeugin aus, die der Polizei den entscheidenden Hinweis für eine Verhaftung von M. lieferte. Über Monate hatten sie und der Angeklagte fast täglich Kontakt über soziale Medien und tauschten sich über Alltagsthemen und psychische Probleme aus. Dann endete die Internetbekanntschaft mit einer Anzeige der 27-Jährigen gegen M., da sie ihn als Täter mehrerer brutaler Drohnachrichten vermutete, die sie und eine Behörde in ihrer Stadt erhalten hatten.

Die Zeugin sitzt bei ihrer Aussage nicht mit im Hauptverhandlungssaal. Sie befindet sich in einem Nebenzimmer und wird über drei große Bildschirme per Video und Ton in die Kammer übertragen. Eine direkte Konfrontation mit M. könne den Zustand der Frau verschlechtern, die an psychischen Erkrankungen leidet, so die Begründung des Gerichts. M. betrachtetet den Bildschirm, ohne eine Miene zu verziehen und scheint der Frau konzentriert zuzuhören, der er nie persönlich begegnet ist. Generell zeigt M. wenig Gefühlsregungen vor Gericht. Er schweigt zu allen Vorwürfen und streitet sie ab. Doch die Beweislast scheint erdrückend: Auf seinem Computer befanden sich unter anderem zahlreiche Fotos aus dem NS-Kontext, Gewaltdarstellungen und Informationen zu dem Bau von Waffen. Ein linguistisches Gutachten attestierte außerdem eine »sehr hohe Wahrscheinlichkeit«, dass E-Mails von M. und solchen unterzeichnet mit »NSO« vom selben Verfasser stammen.

Ein Indiz dafür, dass André M. mit seinen Drohbriefen nicht alleine gehandelt hat, gab es schon am Tag der Prozesseröffnung: Eine Bombendrohung erreichte das Gericht via Fax und die Verhandlung musste unterbrochen werden. M’s E-Mails reihen sich damit ein, in den Kontext einer größeren Drohbriefschreiberszene der extremen Rechten, von der auch reale Gewalttaten zu erwarten sind. Die Auswertung von PC-Daten des Angeklagten hatte ergeben, dass M. sich über geheime Foren im sogenannten »Darknet« mit anderen Rechten in Kontakt setzte und über das Planen von Straftaten und das Beschaffen von Waffen austauschte - darunter auch andere Verfasser von Drohnachrichten.

Vor allem der Fall »NSU 2.0« sorgte mit vermutlichem Insiderwissen von Behörden und Polizei in Hessen in den letzten Monaten immer wieder für Aufsehen. Und M’s mutmaßliche Taten offenbarten vermehrt Verbindungen zu eben jenem Komplex - es gab E-Mails, die gemeinsam von »NSU 2.0« und »NSO« unterzeichnet wurden. Man kann also davon ausgehen, dass die Person vor Gericht nur ein kleiner Teil eines größeren Netzwerkes ist, das eine umfassendere gesellschaftliche Bedrohung darstellt.

Für die nächste Woche ist im Verfahren gegen M. die Vorstellung eines psychiatrischen Gutachtens der zuständigen Sachverständigen geplant, das Aufschluss über die Schuldfähigkeit des Angeklagten geben soll. Im Oktober wird ein Urteil erwartet.

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