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Franzosen werden zu Sparern

Die erhoffte Konjunkturbelebung durch nachholenden Konsum bleibt aus

  • Ralf Klingsieck, Paris
  • Lesedauer: 3 Min.

Nach Aufhebung der dreimonatigen Ausgangs- und Reisesperre in Frankreich im Juni hatte die Regierung auf einen »nachholenden Konsum« gehofft, der helfen sollte, die coronakrisengeschüttelte Wirtschaft wieder anzukurbeln. Doch dieser Boom ist ausgeblieben.

Zwischen Anfang März und Ende Mai hatten die Haushalte im Schnitt die Hälfte ihrer Einkünfte für Miete und andere Fixkosten oder Lebensmittel gebraucht, doch jetzt zögern sie, das zurückgehaltene Geld auszugeben. Im ersten Halbjahr haben die Franzosen so viel gespart wie noch nie in der jüngeren Geschichte. Allein im Juni wurden auf das »Livret A« fast drei Milliarden Euro eingezahlt, während es ein Jahr zuvor nur 510 Millionen waren. Der Staat garantiert für diese risikolosen »Volkssparbücher«, auf denen jeder erwachsene Franzose steuerfrei bis zu 23 000 Euro anlegen darf. Auch für das Gesamtjahr 2020 rechnet man mit einem beispiellosen Rekord, nachdem schon im ersten Halbjahr 20,4 Milliarden Euro auf die hohe Kante gelegt wurden. Das entspricht beinahe den Einlagen für die Jahre 2018 und 2019 zusammen. Aber auch das »Sparbuch für nachhaltige und solidarische Entwicklung« (LDDS), der »kleine Bruder« des Livret A mit ähnlichen Konditionen, verzeichnete in den Monaten März bis Mai einen sprunghaften Zuwachs der Einlagen um 16,5 Milliarden Euro.

Philippe Crevel, Direktor des finanzökonomischen Studienzentrums Cercle de l’épargne, wundert dieser Run auf die risikolosen Sparbücher nicht. »Die Angst vor der Zukunft ist groß«, sagt der Wirtschaftswissenschaftler gegenüber »nd«. »Viele fürchten, arbeitslos zu werden oder weniger Geld zur Verfügung zu haben, wenn sie sich für den Erhalt ihres Arbeitsplatzes zu Lohnkürzungen bereitfinden müssen.«

Die Folgen dieses Spartrends bekommt vor allem der Einzelhandel zu spüren. Bei allen Waren außer den Lebensmitteln halten sich die Kunden zurück. Auch das Geld auf den Girokonten, das zwischen Anfang März und Ende Mai um 41 Milliarden Euro angewachsen war, nimmt seitdem nur in relativ geringem Maße wieder ab. Wenn die Geschäftsinhaber gehofft hatten, nach der monatelangen Zwangsschließung könnten sie jetzt im vorgezogenen Sommerschlussverkauf ihre Warenbestände stark reduzieren, so haben sie sich getäuscht. Dabei brauchen sie die Einnahmen dringend für die Miete und andere Fixkosten. Kunden sind rar und kaufen zudem noch zögerlich. Marktexperten schätzen, dass bis Ende des Jahres von den Ladeninhabern ebenso wie bei Gastwirten oder Handwerkern jeder Dritte aufgeben muss.

Die Konsumzurückhaltung ist meist eine bewusste Entscheidung. »Es ist besser, etwas weniger an Dingen zu kaufen, auf die man verzichten kann, wenn man dafür etwas Geld beiseitelegen kann«, sagt eine Hausfrau, die lieber anonym bleibt. »Bei all dem, was wir erlebt haben und was heute noch passiert, weiß man nie, was noch kommt.« Ihr Mann ergänzt: »Auf dem Sparbuch ist das Geld jederzeit verfügbar, wenn ich es brauche - anders, als wenn ich es anlegen würde.« Dabei war der Zinssatz für das »Livret A«, der zweimal im Jahr vom Gouverneur der Zentralbank festgelegt wird, im Februar auf den gesetzlich noch zulässigen Tiefstwert von 0,5 Prozent abgesenkt worden und dürfte beim nächsten Termin Anfang September dabei bleiben. Die Inflationsrate, die zuletzt bei 0,2 Prozent lag, schmälert die geringe Rendite noch. Darum rät Wirtschafts- und Finanzminister Bruno Le Maire seit Monaten den Bürgern, ihre Sparguthaben zu »diversifizieren« und dadurch profitabler zu machen. Doch nicht sehr viele Franzosen haben Erfahrungen mit Wertpapieren und anderen Anlagen oder Vertrauen in die diesbezügliche Beratung durch die Banken.

»Die Regierung kann kein Interesse daran haben, den Vorbeugesparern entgegenzukommen«, schätzt Ökonom Crevel ein. »Sie will eher zum Konsum ermutigen, um so der Produktion und dem Handel zu helfen und Arbeitsplätze zu sichern. Höhere Zinsen fürs Sparbuch wären daher nicht hilfreich fürs Ankurbeln der Wirtschaft.«

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