Helmut hört heiße Hits
Eine Großtat: Detlef Diederichsens Album »Volkskunst aus dem Knabengebirge« wird wiederveröffentlicht
Erinnern Sie sich an die sogenannte Poprevolution? Anfang der 80er Jahre gab es in den englischen Charts Bands, die sich als elegante Marxisten in Second-Hand-Anzügen präsentierten und euphorisch aufgedonnerte (mit Streichern, Bläsern und Synthies) Liebeslieder spielten, die von der Musikpresse als Chiffren für die kommende sozialistische Erhebung gelesen und gefeiert wurden. Dies war der ästhetische Gegenentwurf zum Punkrock, der mehr auf eine Kunst der Armen setzte. Bands wie ABC, Spandau Ballet oder Heaven 17 versuchten sich an einer ästhetischen Übertrumpfung der Bourgeoisie, um diese mit ihren eigenen Mitteln zu schlagen. Dafür wurden sie in der Hamburger Pop-Zeitschrift »Sounds« als »Soul mit Klassenbewusstsein« gepriesen, unter anderem vom jungen Redakteur Diedrich Diederichsen, der mit dem alten Rockkrempel der Achtundsechziger nichts mehr zu tun haben wollte, was bei der Traditionsleserschaft des Monatsmagazins für Verwirrung sorgte.
Sein jüngerer Bruder, Detlef Diederichsen, schrieb in »Sounds« unter dem Pseudonym »Ewald Braunsteiner« Artikel über Funk und Disco - die Kraftquellen für alles, was schön und tanzbar ist. Er machte auch selbst Musik: Zusammen mit seinem Freund Timo Blunck von der Gruppe Palais Schaumburg spielte er - als Duo Die Zimmermänner - jazzbeeinflussten Niveaupop à la Steely Dan, nur nicht so versiert und perfekt, aber mit lustigen Texten. Auch das war ein charmanter Gegenentwurf zum Aufregungsgetue vieler Punk- und Post-Punk-Bands. Ihr Kleidungsstil verwirrte die Indie-Szene ebenfalls: Blunck und Diederichsen kleideten sich poprevolutionär in Anzügen, manchmal sahen sie auch aus wie brave Oberschüler aus den 1920er Jahren.
Nichtsdestotrotz gingen sie in dieselben Kneipen wie die Punks, und sie hatten auch dieselbe Indie-Grundidee: Man kann es, man macht es. Und man macht auch alles selbst: die Musik, das Image und die Plattencover. Oder eine große poprevolutionäre Platte mit kleinen Mitteln, weil man eben keine Major-Plattenfirma hat, die einem die Bläser und Streicher bezahlt.
»Volkskunst aus dem Knabengebirge«, ein Soloalbum von Detlef Diederichsen, ist so eine Indie-Großtat, auch wenn es 1982 bei Phonogram erschien, einer ganz normalen Plattenfirma. Die Platte wurde nun zu seinem 60. Geburtstag wiederveröffentlicht. Als er sie einspielte, war er 22 Jahre alt und Zivildienstleistender, er fuhr einen Schulbus für die Johanniter-Unfallhilfe.
Von seinem Zivi-Sold hatte er sich einen Drum-Computer gekauft, der nur drei Sounds bereitstellte. Produktionsprinzip: Erst kommt der Beat, dann das Lied. Diederichsen nennt das heute die »Weiße-Blatt- Methode«. Auf den Beat schichtete er mit Hilfe von Freunden Keyboards, Gitarre, Bass und Gesang. Derart entstanden die schönsten Abmix-Experimente, in denen es blubbert, piept und rumpelt. Ja, es ist eine »Wahrhaftige kleine Musik«, wie das erste Lied heißt. Die teilweise großartigen Texte dazu hat Diederichsen montiert: abgeschrieben bei Brecht oder aus der Boulevardpresse oder nebenher aufgeschnappt im Schulbus. Da gibt es »zuckende Chamäleon-Lichter«, »hobbypsychologische Gebete« und Fliegen, die Christen lieben. »Helmut hört heiße Hits«, heißt es über den damaligen Bundeskanzler, an den die Bitte ergeht: »Helmut Schmidt, mach doch bei uns mit, wir brauchen einen Orgelspieler und wollen dich und niemand sonst« - gesungen in einer Mischung aus Gospel und Beach Boys.
Das sind Hits im Avantgardekostüm, so schlicht wie schillernd. Die Experimentalausgabe britischer Pop-Emphase. »Volkskunst aus dem Knabengebirge« steht damit in einer Reihe mit den auf ähnliche Weise produzierten frühen Songs von Max Goldt und dem leider vergessenen Meisterwerk »Ein Bündel Fäulnis in der Grube« von Holger Hiller von 1983. Denn »sehr gut kommt sehr gut«, wie man damals in »Sounds«-Kreisen sagte - kurz bevor diese poprevolutionäre Zeitschrift leider eingestellt wurde.
Detlef Diederichsen: »Volkskunst aus dem Knabengebirge« (Tapete Records), zuerst veröffentlicht 1982
In der neuen App »nd.Digital« lesen Sie alle Ausgaben des »nd« ganz bequem online und offline. Die App ist frei von Werbung und ohne Tracking. Sie ist verfügbar für iOS (zum Download im Apple-Store), Android (zum Download im Google Play Store) und als Web-Version im Browser (zur Web-Version). Weitere Hinweise und FAQs auf dasnd.de/digital.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.