Von Bersarin bis Brandt
Das Ende des »Reichs«
Nach Hitlers Selbstmord war der Krieg noch nicht beendet. Erst acht Tage danach kapitulierte die deutsche Wehrmacht. Doch schon zuvor, am 28. April 1945, hatte Generaloberst Nikolai Bersarin bekannt gegeben, dass die gesamte administrative und politische Macht in der deutschen Hauptstadt auf ihn übergegangen ist. An den ersten sowjetischen Stadtkommandanten von Berlin erinnert derzeit eine Ausstellung im Russischen Haus der Wissenschaft und Kultur, eröffnet am 16. Juni. 75 Jahre zuvor war dieser tragischerweise mit seinem Motorrad tödlich verunglückt.
Der Historiker und Journalist Volker Ullrich schildert die letzten Tage des »Tausendjährigen Reiches«. Tage, in denen niemand wusste, wie es weitergeht - deutsche Flüchtlinge aus dem Osten, KZ-Häftlinge auf »Todesmarsch« oder auch bereits befreite politische Gefangene, Zwangsarbeiter und sogenannte Displaced Persons, die die Stadt an der Spree bevölkerten. Ein »Ameisenhaufen«, so Ullrich. Erich Kästner schrieb damals in sein Tagebuch: »Leute laufen betreten durch die Straßen ... Die Lücke zwischen dem Nichtmehr und dem Nochnicht irritiert sie.«
Wehrmachtsgeneräle wie Karl Dönitz oder Hitlers willige Vollstrecker wie Albert Speer versuchten sich bei den Westalliierten anzudienen. Zu vielen von ihnen gelang dies auch. Ullrich erinnert zugleich an die »Jagd« der Alliierten auf deutsche Wissenschaftler wie den Raketenspezialisten Wernher von Braun.
Es sind keine spektakulär neuen Erkenntnisse, die der Autor bietet, doch es gelingt ihm, ein dichtes, anschauliches Bild der letzten Tage in ganz Deutschland zu zeichnen - von Berchtesgaden, dem Refugium Hitlers am Obersalzberg, bis nach Flensburg, dem Rückzugsort der letzten Naziregierung unter Admiral Dönitz. Zudem wirft Ullrich einen Blick auf einige deutsch besetzte und nun befreite Länder, in denen sich noch viele Dramen abspielten.
Im Fokus stehen die Protagonisten des Nazireiches und Menschen des demokratischen Neubeginns. Es taucht der ehemalige Oberleutnant und spätere Bundeskanzler Helmut Schmidt auf, der sich noch in den 90er Jahren gegen die Aufdeckung der Verbrechen der Wehrmacht stemmte. Einer seiner Vorgänger als SPD-Vorsitzender, Kurt Schumacher, hatte 1932 in einer Rede im Reichstag gemahnt: »Wenn wir irgendetwas beim Nationalsozialismus anerkennen, dann die Tatsache, dass ihm zum ersten Mal in der deutschen Politik die restlose Mobilisierung der menschlichen Dummheit gelungen ist.« Dessen Nachfolger an der Spitze der Nachkriegs-SPD, Willy Brandt, hatte sich nach Jahren des Exils nichts sehnlicher gewünscht, als rasch nach Deutschland zurückzukehren - und wurde dort ebenso wie die Schauspielerin Marlene Dietrich (deren Schwester eine stramme Nazifrau war) lange noch des »Vaterlandsverrats« bezichtigt. Zum Schluss hebt Ullrich hervor, man solle die »Errungenschaft« würdigen, »heute in einem stabilen, freiheitlichen und friedlichen Land leben zu können. Vielleicht ist es an der Zeit, daran zu erinnern.«
Volker Ullrich: Acht Tage im Mai. Die letzte Woche des Dritten Reiches. C. H. Beck, 317 S., geb., 24 €.
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