Wenn’s blutet, bringt es Quote
Die Netflix-Reihe »Gerichtsverfahren in den Medien« zeigt, wie die Justiz der USA vom Boulevard beeinflusst wird
Bernie Goetz ist ein völlig unscheinbarer Mann. Mit Kassenbrille unterm Einheitshaarschnitt würde der hagere New Yorker zwischen all den Exzentrikern seiner Heimatstadt auch heutzutage wohl kaum auffallen. Vor 36 Jahren allerdings ging er dort förmlich unter. Bis zum 22. April 1984. An dem Tag nahm er seinen Revolver und schoss damit auf vier schwarze Teenager, die ihn um etwas Geld angingen. Während seine Opfer also auf der Intensivstation lagen, landete der Täter dort, wohin er unbedingt wollte: in den Schlagzeilen. Schluss mit der Unscheinbarkeit.
Schließlich beherrschte der »U-Bahn-Rächer«, wie ihn die Regenbogenpresse rasch taufte, über Monate hinweg die Schlagzeilen einer moralisch zusehends verwahrlosten Gesellschaft. Und publizistisch von allen Seiten permanent befeuert, sorgte sein Akt öffentlichkeitswirksamer Selbstjustiz bald für so viel Aufsehen, dass beim anschließenden Prozess plötzlich ganz andere vor Gericht standen als Angeklagte und Strafverteidiger, Zeugen und Richter, Geschworene und Publikum, alle in Personalunion: die Medien.
Wie sie damals erst Bernie Goetz’ skandalösen Freispruch beeinflusst haben und später den anschließenden Zivilprozess, wie die Presse erst dem weißen Mainstreamrassismus, dann der schwarzen Bürgerrechtsbewegung ein Sprachrohr gab, wie folglich das Recht vereinnahmt und die Justiz zum Spielball der Meinungen wurde - das ist »Real Crime« in Reinform, also bestens geeignet für ein imposantes Dokumentarformat, mit dem Netflix die dritte Gewalt skizziert, die von der vierten beeinflusst wird: »Gerichtsverfahren in den Medien« heißt die Reihe. Wobei es in der Folge namens »Talkshow-Mörder« scheinbar umgekehrt läuft. Nachdem der unbescholtene Jonathan Schmitz einst in Michigan für den Totschlag an seinem Kumpel Scott Amedure zu mindestens 25 Jahren Haft verurteilt worden war, saß nämlich mit einem Mal jemand ganz anderes auf der Anklagebank: das Metier der brachialen, trashigen »Daily Talks«, die Mitte der 90er Jahre auch hierzulande den Fernsehnachmittag prägten.
Denn weil das schwule Opfer dem heterosexuellen Täter vor den Kameras der beliebten »Jenny Jones Show« unverhofft seine Liebe gestanden hatte, war Letzterer offenbar so zerrüttet, dass er Ersterem drei Tage später zwei Kugeln in die Brust schoss. Nach dem strafrechtlichen Schuldspruch verklagten Scott Amedures Eltern daher den Unterhaltungskonzern Warner Bros. auf Schadenersatz. Und wieder saß die Nation gebannt vor den Fernsehern, als der gewiefte Staranwalt Geoffrey Fieger die Moderatorin ins Kreuzverhör nahm und dadurch 25 Millionen Dollar Schadenersatz für die Hinterbliebenen erstritt. Das Urteil wurde später zwar von einem Berufungsgericht revidiert. Trotzdem zeigt es, wie sehr die US-Justiz im Bann einer Medienberichterstattung stand, die anders als in Deutschland live aus dem Gerichtssaal senden darf. Und die infolge der Entfesselung der Medien im digitalen Zeitalter mehr denn je in deren Bann steht.
Spätestens seit sich der Rechtsstaat im vermeintlichen Land der Freiheit unter Dauerbeschuss des populistischen Verfassungsfeindes Donald Trump und der ihn unterstützenden Medien - wie Fox News - befindet, eignen sich selbst nostalgisch angestaubte Bilder wie diese noch besser als vorher zur Illustration einer Gesellschaft im ethischen Abstieg.
Dass drei der sechs Fälle, die von den ausführenden Produzenten Brian McGinn und George Clooney gesammelt wurden, sich um eine rassistische Klassenjustiz zulasten der afroamerikanischen Bevölkerung drehen, ist da nur eine bedrückende Randnotiz.
Letztlich zählt allein das medienwirksam gelenkte Informationsbedürfnis verblendeter Massen - völlig egal, wer dafür am Pranger der Aufmerksamkeitsindustrie landet. »It bleeds, it leads«, sagt ein Zeitzeuge in der Reihe über die vorherrschende Themengewichtung: Wenn’s blutet, bringt es Quote. Die Begleitschäden sind der Abbau von Demokratie, Rechtsstaat und sozialem Frieden.
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