Zu zwanzigst zusammengepfercht

Vor allem für vietnamesische Wanderarbeiter ist Wohnraum Mangelware

  • Marina Mai
  • Lesedauer: 3 Min.

Knapp 21 Quadratmeter Wohnraum entfallen laut amtlicher Statistik auf einen durchschnittlichen Vietnamesen. Vergleicht man das mit der Zahl von 1990, wo es lediglich sechs Quadratmeter waren, ist das ein beachtlicher Fortschritt. Und dennoch gehört Wohnraum zu dem, was in Vietnam am dringendsten fehlt.

Dabei sind die Unterschiede innerhalb der vietnamesischen Gesellschaft beachtlich. Die städtische Mittelschicht, deren Angehörige im Nachkriegsvietnam selbst noch bescheidene Bambushütten mit drei Zimmerchen für zehn bis zwölf Personen kennengelernt haben, wohnt heute recht geräumig. Wanderarbeiter in den Industriegürteln der großen Städte hingegen hausen häufig in Massenschlafsälen. Die Wanderarbeiter stammen aus dem von Armut und Klimawandel geprägten Zentralvietnam. Die Qualität dieser Schlafsäle, in denen zwischen vier und 20 Personen schlafen müssen, sei unterschiedlich, weiß Erwin Schweisshelm, langjähriger Leiter des Hanoier Büros der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung. Als Ausländer bekam er die Vorzeigeunterkünfte gezeigt. Die waren sauber, hatten Fernseher, Gemeinschaftsbäder und Küchen.

Die Zahl der von prekären Wohnverhältnissen Betroffenen steigt, denn immer mehr Vietnamesen wandern auf der Suche nach Arbeit in die Industriegürtel der Großstädte. Lebten 1999 nur 21 Prozent der Vietnamesen in einer Stadt, sind es 2020 bereits 45 Prozent. Weil öffentlicher Nahverkehr fehlt, muss, wer in den Industriegürteln arbeitet, dort auch wohnen. Genau dort werden also preiswerte Wohnungen in großer Zahl gebraucht. Und zwar Mietwohnungen, die in Vietnam eigentlich keine Tradition haben, denn traditionell macht Wohneigentum den größten Teil des Immobilienmarktes aus. Aber wer aus einem Dorf in einen Industriegürtel kommt, sieht das nur als Überbrückung für wenige Monate oder Jahre und würde sich kein Wohneigentum dort zulegen, selbst wenn er das mit Krediten finanzieren könnte.

2014 wurde in Vietnam erstmals ein Wohnungsgesetz beschlossen, das so etwas wie sozialen Wohnungsbau vorsah. Es funktionierte aber nur in wenigen Modellprojekten und selbst die entstanden weniger in den Großstädten für Arbeiter und Studenten, wie die Regierung es beabsichtigt hatte, sondern an der Küste für umgesiedelte Hochwasseropfer. Von den 2014 geschaffenen 92 Millionen Quadratmetern Wohnfläche entstanden nur 800 000 Quadratmeter im sozialen Wohnungsbau. Bauherren konnten ihr Geld anderswo gewinnbringender anlegen und so etwas wie Werkswohnungen lohnt sich nicht in einem Land, in dem Firmen jederzeit genug billige Arbeitskräfte finden.

Eine Alternative sah die Regierung darin, die Gewerkschaften zu verpflichten, »mit ihren reichlich überschüssigen Geldern sozialen Wohnungsbau für Beschäftigte zu betreiben und auch Kindergärten zu bauen«, sagt Erwin Schweisshelm, der bis 2018 in Hanoi das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung leitete. Gemeint sind Familienwohnungen zu verträglichen Preisen. Damit sollte die soziale Infrastruktur näher an die Industriezonen heranrücken.

Aus europäischer Sicht erstaunt sicher, dass der Staat Gewerkschaften zu etwas verpflichten kann. Aber in Vietnam sind Funktionäre des Gewerkschaftsbundes VCGL quasi Staatsangestellte. Die Gewerkschaften finanzieren sich über eine gesetzliche Abgabe von Firmen, in denen eine Betriebsgewerkschaftsgruppe besteht, an den Staat. Gewerkschaften können nicht frei über ihre Mittel verfügen. Der VCGL mit seinen zehn Millionen Mitgliedern organisiert keine Streiks und führt keine Tarifverhandlungen.

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