Politik der Gewöhnung

SOWIESO fragt: Wie tödlich wäre tödlich genug?

  • Adrian Schulz
  • Lesedauer: 2 Min.

Das Problem an Verschwörungstheorien ist, dass ein kleiner Teil immer stimmt. Es gibt ein Tunnelsystem unter Mitteleuropa: die Kanalisation. Es gibt Mächtige, Lobbyisten, Geheimdienste. Manchmal lesen sie sogar die Zeitung, wie wir vom Verfassungsschutz wissen. Virologen haben keine Ahnung: Wenn das Politiker*innen mit Anzug sagen, ist es gleich ein bisschen wahrer. Vor allem aber führt die mediale Aufmerksamkeitskulisse, die jetzt von schamanischen und glatzköpfigen Demonstrationstänzern mal wieder gekonnt als Lügengebilde entlarvt wird, tatsächlich gar nicht unbedingt dazu, dass alle besser informiert sind. Viel eher: dass sie sich daran gewöhnen.

Das ist in weniger ansteckenden Zeiten ganz praktisch, wenn noch der größte Asylrechtsfaschismus nach ein paar Wochen schon vergessen oder, schlimmer noch, irgendwie akzeptiert ist. »Feuer«, wird geschrien, »Feuer« - aber schon nach dem dritten Mal regt sich niemand mehr auf. Weil entweder die Einsicht abhandenkam oder schlichtweg die Aufmerksamkeit. Doch es brennt trotzdem.

In ähnlicher Weise fällt den auf der Seite der Vernunft stehenden Politiker*innen nun mal wieder genau jener Anti-Elitarismus auf die Füße, mit dem sie sonst so gerne von ihren Sozialkürzungen und Umweltverschmutzungen ablenken. Nachdem inzwischen sogar wieder die Mundspuckereien ihre Geschäfte (natürlich unter strengen Hygieneauflagen) öffnen durften, bleibt für alle, die an die letzten 250 Jahre Biologie glauben, nur, in Anspannung bis zur sogenannten zweiten Welle zu warten. Der bekanntlich ein gespenstisch leeres Wellental vorangeht.

Bis dahin nämlich wird es dauern: bis zur zweiten Welle. Bis dahin wird die mit viel Aufwand eingeleitete Gewöhnung anhalten. Sie ist träger Natur. Man fragt sich, wie entspannt die Leute wären - ich nehme mich da nicht aus -, wenn die schon längst wie der Wetterbericht absorbierte Tödlichkeitsrate nicht bei einem halben oder einem Prozent läge, sondern bei zwei, fünf oder zehn Prozent. Wie tödlich wäre tödlich genug? Und wie lange bräuchte es, bis sie sich auch daran gewöhnt hätten? Würde ein sächsischer Ministerpräsident kurz nach der ersten Welle einer, sagen wir, Ebola-Epidemie immer noch gemütlich zu seinen Lieblingsnazis radeln? Vielleicht könnte man die Krankheit ja sponsern lassen, schlüge er dann möglicherweise vor, von Vita-Cola oder Riesa-Nudeln? Dann klänge sie gleich gar nicht mehr so schlimm.

Eitrige Wunden, blutiger Durchfall, Organversagen? Pest? Pocken? Superkrebs? So leicht lässt sich der Deutsche nicht von seinem Restaurantbesuch abbringen. Da muss schon der Russe höchstpersönlich vor der Tür stehen.

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